Gott Braucht Dich Nicht
dann höre ich weiter dieses Deutsch, das ich nicht verstehe. Es kommt von meiner Hand, die den Kopf an den Haaren hochhält. Die Augen verdreht, spricht der Mund weiter zu mir – ich will die Zunge rausschneiden, kann sie nicht fassen, weil sie zappelt.
Aufgewacht. Mein Kiefer schmerzt. Ich liege in der Dunkelheit. Es ist irgendeine von den vielen Stunden mitten in der Nacht. Ich muss aus diesem Bett raus. Sonst kippe ich, wenn ich einschlafe, sofort in den Traum zurück, wo es dann weitergeht. Das kenne ich schon.
Papa ist tot. Denke ich. Und bleibe am Bettrand sitzen. Und die Gespräche darüber, dass Papa tot ist, und immer noch tot ist, und das Verstummen des Gesprächs und die neuen Fragen und die alten, dummen, einfachen, ekelhaft glatten Antworten, die man sich in einer Nacht auf diese Fragen gibt, sacken irgendwo in mir ab und rieseln leise dahinten in meinem Kopf weiter. Dann stehe ich.
Ich gehe die Treppe hinunter. Mir wird sofort kalt. Dieser ätzende, stinkende Angstschweiß klebt an mir wie der Traum. Dieses ätzende Beben. Die Treppe knarrt, als ich runtergehe. Ich mache kein Licht im Flur, damit Oma nicht wach wird. Bleibe vor ihrem Zimmer stehen und horche. Sie atmet. Schleiche noch ein Stockwerk tiefer, will in die Küche gehen, was trinken, da höre ich etwas aus dem Wohnzimmer. Die Tür ist offen. Ich schaue vorsichtig hinein und sehe in dem dunklen Zimmer die Umrisse meiner Mutter am Fenster. Ich verharre im Türrahmen. Sie bemerkt mich nicht, obwohl es so still ist, dass man jedes Atmen hören kann. Jedenfalls höre ich, dass ihr Atmen etwas mit Weinen zu tun hat. Sie steht im Nachthemd neben der großen, langen, schattenhaften Gardine am Fenster und schaut in den Garten. Sie liebt Papa. Darum steht sie da in der Nacht, weil sie ihn liebt. Und man wird immer von Liebe gezogen. Wenn beide Menschen leben, dann werden sie gezogen zueinander in die Arme. Wenn einer tot ist, dann zieht es einen durch die Flure in die äußeren Zimmer bis an die Fensterscheiben, wo der Atem das kalte Glas beschlägt.
Die Gestalt meiner Mutter sieht aus, als stünde Papa da draußen. Als gäbe es ihn noch. Die runden Schultern, ihr Kopf, ihr kleiner Körper im Nachthemd, alles neigt sich jemandem zu, als wäre Papa da draußen vor dem Fenster in der Nacht und würde zurücklieben und sie trösten. Sie hält sich die Hand vor das Gesicht. Ihr Weinen wird stärker.
Ich gehe weg.
6
Schmerz schleicht sich so still an. Ich glaube, er lächelt auch. Selbst wenn man sich plötzlich verletzt, sich geschnitten hat, bleibt er noch kurz in wartender Position im Bühnenaufgang, wartet im Dunkeln auf Blickkontakt, sein Zeichen, bis man es gerafft hat, was da gerade passiert ist. Und dann schreitet er langsam, stetig, selbstbewusst nach vorn, selbstherrlich, ignorant, auch wenn er ausgebuht wird – tritt auf mit geöffneten Armen: «Sehr verehrtes Publikum, ich freue mich …», faltet die Hände, schließt wissend, nickend die Augen, nie, ohne sein Lächeln zu verlieren – er leidet ja nicht an sich. Er ist einfach nur da und fährt sein Programm. Und das, was Theologen und Philosophen oder die, die sich dafür halten, seit Hunderten von Jahren versuchen, nämlich, ihn zu deuten, zu verstehen, ihm eine Rolle zu geben auf der Bühne, die Schmerz ja betreten hat, ohne vorzusprechen – die sind für ihn wie das kleine ummalende Staatsballett. Sie tanzen um ihn, und manche glauben dabei, dass sie die Regisseure seien, und zupfen an ihm herum und sagen: «So geht das aber nicht. Mit Verlaub», oder sie versuchen, an ihm vorbei ins Publikum zu brüllen: «Er ist hier, weil der Tod für deinen Vater eine Erlösung war! Weil dein Vater doch so gelitten hat, ist er besser gestorben.» Und ich rufe zurück: «Was für eine Erlösung soll das sein? Gesund werden wäre eine Erlösung gewesen. Was soll ich jetzt mit dieser Show hier?»
Und dann rufen die Tänzer zurück: «Du kannst jetzt reif werden an diesem Bühnenstück! Hör, was der Clown dir hier zu sagen hat. Ohne ihn wüssten wir ja gar nicht, wie schön es ist, ein vernünftiges Theaterstück zu sehen, ohne ihn wüssten wir nicht, was Glück ist, wüssten es nicht zu schätzen.» Und er freut sich und haut ihnen kess auf den Tutu-Popo, und sie hören nicht, dass er sich bedankt.
Das Publikum wird wütend. Und fängt an, sich mit den Ballettdamen zu streiten, und alle sind sich einig, dass es unmöglich von der Geschäftsleitung ist – wer hat den eigentlich
Weitere Kostenlose Bücher