Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Maria Magnis
Vom Netzwerk:
die die nackte Erde auf dem Grab verdeckten, und im Leid die ganze Liebe der Freunde und Verwandten sah.
    Ich sah im Leid das Leid. Dass ich Papa liebte, wusste ich schon vorher – er auch. Es gab keinen Sinn in Papas Tod. Ich konnte mir nicht erklären, wieso Gott Papa sterben ließ, nach dem, wie wir Kinder auf dem Dachboden gebetet und geglaubt hatten. Manchmal fragte ich mich, ob mein Glaube an Gott vielleicht nicht groß genug gewesen war. Aber dann dachte ich: Nicht mal Petrus hat richtig geglaubt und wäre abgesoffen, wenn Jesus ihn nicht aus dem Wasser gezogen hätte, also was ist das für ein Spielchen mit unserem Glauben, mit meinem Vertrauen.
    Man könnte meinen, es reiche aus, sich Bilder im Fernsehen anzusehen von Katastrophen, oder was weiß ich, um ehrlich an diese Frage «Warum dieses Leid?» zu kommen. Ich bin mir da nicht sicher. Ich glaube, es ist ein Unterschied, ob man was im Fernsehen gesehen hat, was einen unendlich entsetzt und intellektuell fragen lässt, wie Gott, wenn es ihn gibt, das zulassen kann, oder ob man die Frage kaum noch stellen kann, weil man so wundgeprügelt ist, dass man selbst zur Frage wird. So weich, so gebrochen, dass der Mensch großzügig geschwungen mit zerbröselten Wirbeln als Fragezeichen liegt.
    Und darum schreibe ich keine Theologie und Philosophie über das Leid, das ich im Fernsehen gesehen habe, und ich gebe den Menschen nicht die allgemeingültige Antwort aufs Leid, ich setze mich nicht vor die beleidigten Katholiken und Protestanten und Atheisten und Deutschen, die in jeder Diskussion die Formel für Leid finden wollen in ihren Köpfen, sei es als beleidigte arrogante Frager oder als arrogante Antworter. Ich schreibe keine allgemeine Formel für den Clown, und wer eine geben will, ist zynisch. Ich habe damals keine gehört, die gestimmt hätte, und wenn, dann hätte sie mir niemand aus dem Publikum, niemand aus dem Staatsballett und schon gar nicht einer von denen an den Frühstückstischen geben können. Das hätte nur die Geschäftsleitung selber gedurft – aber ehrlich gesagt: Die Antwort war mir scheißegal. Jede Antwort hätte ich als Frechheit empfunden. Was für einen guten Grund soll eine geschändete Kinderleiche haben, was für einen guten Grund sollte Papas grauenhafter Tod haben?
    Die Geschäftsleitung griff nicht ein. Und der Gott konnte sich auch nicht entschuldigen. Es gab keine Entschuldigung. Denn wenn ich eins von ihm wusste, dann, dass dieser Gott eine Kraft und ein Wissen hatte, das die ganze Welt in sich barg. Und jemand, der alle Macht hat, kann sich nicht wegen Schwäche oder sonst was entschuldigen, auch wenn manche Priester das seit neuestem immer mehr für ihn versuchen – der kann gerade nicht, der hängt am Kreuz – hat die Arme aber weit für uns geöffnet …
    So saß ich damals also in der Kirche und starrte nach vorne am Bräutigam vorbei. Ich dachte an meine Geschwister. Wir haben gebetet, dachte ich – gebettelt haben wir, dass er uns den Vater lässt. Ich dachte an Steffis und Johannes’ Hände, die beim Beten ihre geneigten Stirnen stützten, wie ihre Köpfe darin lagen, die Augen geschlossen, die Fingerspitzen an den Scheiteln, wenn sie versuchten, sich selbst zu halten, zu sammeln, um unser «Bitte mach, dass er nicht stirbt, lieber Gott» ruhig auszusprechen.
    Ich dachte daran, wie dieser Satz, als es Papa immer schlechter ging, in der Stimme höher kletterte und heiser gewimmert wurde: «Bitte nicht, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, Gott, bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht, bitte, lass ihn, ich will Papa behalten, bitte, Gott, ich tu, was du willst, mach ihn gesund», gerade so noch zurückhaltend, um sich nicht auf den Boden zu werfen – wie ein Köter, der sich mit eingezogenem Schwanz winselnd auf dem Rücken wälzt. Ich dachte an die blassen, erschöpften Gebete, die faul rochen, weil sie immer faul riechen, wenn die Menschen lange geweint haben und die Angst den Magen leer geräumt hat.
    Ich dachte an den Moment, wo ich angefangen hatte zu beten: «Ich glaub dir, Jesus, danke, dass du Papa gesund machst.»
    Ich hab’s getan, dachte ich, den Blick nach vorn zum Altar am Kreuz vorbei – ich hab alles getan, was ich als 17-Jährige schaffen konnte an Vertrauen, an Glauben zu Gott! Ich hab es so sehr versucht. Ich hab’s versucht, wie die aus der Bibel, ich hab versucht, nicht einer von den schlechten Zweiflern zu sein, ich hätte die Dächer abgedeckt und die Trage mit Papa hinuntergelassen, ich

Weitere Kostenlose Bücher