Gott Braucht Dich Nicht
soll, aber da stürzen schon manche Ballettdamen herbei und helfen mit.
«Ich könnte mir eventuell schon vorstellen, dass es eine Geschäftsleitung gibt. Zumindest kann man es nicht grundsätzlich ausschließen», meint eine sehr zarte Ballettdame und bekommt rosarote Wangen vor Aufregung, weil sie glaubt, eine Lösung gefunden zu haben. «Aber wie diese Geschäftsleitung ist, darüber können wir nichts aussagen, das kann der Mensch nicht wissen, das wäre anmaßend», sagt sie, zuckt mit den Schultern und macht einen Knicks vor denen, die jetzt anerkennend klatschen.
«Was für ein Quatsch», schnauzt sie der Mann neben ihr an. Er hat einen Fisch auf dem Pulli, «Hier steht’s doch drin», sagt er und knallt dem Ballettfräulein das zusammengerollte Programmheft auf den Kopf. «Aua», sagt die Tänzerin und stirbt. «Das kommt davon», sagt der Mann und schnippt mit dem Finger gegen sein Heft.
«Ladies and Gentlemen!», brüllt der Clown, spitzt seine Lippen und wirft Kusshändchen. Und in der Zeitung wird es stehen: «Dieser Mann Schmerz, dieses Leid» – und dann werden die Menschen an den Frühstückstischen sitzen und die Köpfe schütteln und sagen: «Warum passiert da nichts? – Gib mir noch mal den Kaffe, Schatz – ab morgen kaufen wir den nur noch aus fairem Handel.» Sie werden sagen: «Warum passiert da nichts? Warum macht die Geschäftsleitung nichts?», auch wenn sie nie in dem Theater gesessen haben, und es werden alle sehr, sehr böse sein, wenn es um die Geschäftsleitung des Theaters geht, und man wird sich viel unterhalten und in Talkshows sitzen, und man wird sagen können: «Wenn es eine Geschäftsleitung überhaupt gibt, wie kann sie das zulassen?» – und dann werden sich viele dafür entscheiden, dass es keine Geschäftsleitung gibt, weil sie sie so doof finden müssten, wenn es sie gäbe. Und die Menschen, die nicht aus dem Theater herauskommen, die das alles ertragen müssen – die den Clown persönlich kennengelernt haben –, die wird man nicht fragen, weil die ja schon ganz meschugge sind von der Show. So wie ich.
7
Ich saß drin in dem Scheißtheater. An diesem Tag war es eine Kirche. Eine Hochzeit. Papas Beerdigung war ein paar Monate her. Vorne an den Stufen zum Altar stand schon der Bräutigam. Er lächelte und strahlte, ein wenig nervös. Die alte Kirche, typisch westfälisch, ein langes Schiff, ein wenig klobig, mit weiß gekalkten Wänden, war voll. Hinten auf der Empore stand der Chor, die Eltern des Bräutigams gehörten zur Kantorei, und die Sonne schien draußen, weil Frühling war. Immer noch Frühling, mit dieser hellen, weißen Sonne, die in den schwarzen, nassen Ästen glänzt. Die hatte wohl auch, das wurde mir später gesagt, an Papas Beerdigung geschienen, als die ganzen dunklen Mäntel der Geschäftsmänner mich nach und nach am offenen Grab umschlossen und – ja – durchschüttelten, wenn sie weinten. Das Schluchzen ging leise durch ihre Ärmel, und für mich war es fast belebend, wenn sie sich wie große Kinderschatten herunterbeugten und mich, auch wenn sie das noch nie getan hatten, auf einmal umarmten und sich festhielten. Einer vergrub sein Gesicht an der kleinen Schulter seiner Frau, die ihn, umarmend, vorsichtig wegzog. «Mein Gott», er weinte so, «dies Kind, Gott, diese Kinder», und hielt sich die Hand vor den Mund. Ich sah ihm hinterher. Ich hatte das Gefühl, dass die alle viel mehr wussten als ich, viel mehr verstanden hatten. Außerdem sah ich seitdem öfter, dass die Menschen die Blicke senkten oder mich nicht richtig anschauen mochten, als hätte ich denen weh getan. Ich wurde so ein kleines 17-jähriges Memento mori.
Und jetzt, in der Kirche bei dieser Hochzeit, fühlte ich mich wieder ein wenig so. Es waren viele Mäntel da, die auch auf Papas Beerdigung in Bankreihen gesessen hatten. Alles Bekannte meiner Eltern. Die lächelten mich lieb, unsicher fragend, an. Sagten was zu meiner Mutter. Die saß neben mir. Ich konnte wenn, dann nur in Zeitlupe reagieren. Es dauert so lange, bis man sich erholt vom Schlag in die Fresse. Meine Mutter war freundlich und sah die Leute offen an. Ich nicht.
Zu dem Schmerz, der einen nach so einem Tod wieder ins Leben holt, nur um an ihm zu leiden, kam kurz vor der Hochzeit noch etwas anderes dazu: Zorn. Der war sehr zaghaft am Anfang. Dünn im Puls. Dann nur zwischen zusammengepressten Lippen, wenn jemand einen Sinn in Papas Tod sehen wollte oder lächelnd über die Blumen und Kranzberge sprach,
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