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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Maria Magnis
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12-Uhr-Geläut. Und irgendetwas rieselte.
    «Schön» fiel wie eine tote Fliege, die noch am Fenster geklebt hatte, und wurde Staub. Gut und Böse waren längst verschwunden. Wahrheit. In dem Dotter meines Gehirns? Es gab sie nicht. Und Wirklichkeit? Was auch immer sie war, eine der tausend Wirklichkeiten, die diese Welt hat, sie ging schwimmen mit ihren Schwestern, und meine galt nicht mehr als die von unserem Hund oder die einer Fruchtfliege oder eines Steins. Die Wirklichkeit gab es nicht. Das verstand ich jetzt. Es gab nur Bilder, meine Deutungen und andere Deutungen, Illusionen und Muster, und darum ließ ich sie planschen neben den anderen, und ich passte nicht mehr auf, ich verließ sogar das Ufer, an dem sie ihre Klamotten ausgezogen hatte.
    Wenn ich nicht auf dem Turm saß, setzte ich mich zu Oma ans große Bett, sah zu, wie sich ihre Brust hob und senkte, und merkte, dass jeder Gedanke von mir eigentlich nur noch eitler kindischer Lärm war. Wozu denken, wenn es keine Wahrheit gibt? Ist doch nur noch Masturbation. Wir sind Wichsvorlagen. Ach was. Viel zu hart. Viel zu viel Urteil.
    Der Therapeut, zu dem ich musste, nachdem mein Schwänzen nach einem Dreivierteljahr aufflog, konnte mir nicht helfen. Der wusste auch nicht, wozu die Welt da war. Es gab keine Tabletten gegen diese Scheißfragen und noch weniger eine Antwort. Er hätte mir wenigstens eine Hoffnung, einen berechtigten Grund nennen müssen, warum dieses Leiden von mir nicht umsonst war. Und ich war mir dessen bewusst, dass mein Leiden klein war im Vergleich zu dem vieler anderer Menschen. Das machte es nicht besser – im Gegenteil.
    Er sagte mir, dass ich mich nicht nur mit solchen Fragen beschäftigen könne. Ich müsse mir auch eine Abwechslung, eine andere Beschäftigung suchen, womit er sich in meinen Augen verraten hatte. Und ich sagte: «Verstehe», und dann sagte ich nichts mehr und er auch nicht, und ich schaute auf die Packung Kleenex, die vorsorglich neben der Patientencouch stand, zog eines heraus, strich mir damit über die Hände und fragte mich kurz, warum hier eigentlich nicht einfach nur Klopapier stand.
    «Du weißt nicht, warum wir hier sind», dachte ich, und ich dachte es flüsternd. «Deine Antworten sind in letzter Konsequenz wahrscheinlich genauso fatal.»
    Er sagte darüber nichts. Das konnte er als Psychologe auch gar nicht. Das war auch nicht seine Aufgabe. Stattdessen verordnete er mir autogenes Training, und ich wurde ganz ruhig und entspannt und beide Arme bleiern und schwer. Aber das bekämpfte nur die Symptome. Ich litt dann einfach entspannter.

    Hin und wieder versuchte ich, zu einer Party zu gehen. Dann duschte ich lange, wusch mir die Haare, stand vorm Spiegel, schminkte mir die Augen und den Mund, hielt das Fläschchen mit dem letzten Parfüm in der Hand, das Papa mir geschenkt hatte, stellte es wieder zurück, benutzte eins von meiner Mutter, zog die Schuhe an, ging in Omas Zimmer, um ihr gute Nacht zu sagen, obwohl ich das schon getan hatte, weckte sie vielleicht damit auf, gab ihr etwas zu trinken, wischte ihr den Mund ab, streichelte ihr Haar, am Stirnansatz, dort, wo noch Gesichtscreme glänzte, weil sie gar nicht einziehen konnte in die pergamentene Haut, und dann ging ich wieder ins Bad, versuchte, das Fett von der Hand zu waschen, und wusste schon, dass ich gleich nicht würde gehen können. Ich stieg die Stufen hinunter, öffnete die Wohnzimmertür, blieb in der offenen Tür stehen, Mama lag auf dem Sofa und sah Filme, in denen nicht gestorben wurde.
    «Ich wollt jetzt los.»
    «Ja», sagt sie lächelnd und richtet sich leicht auf. «Kommst nicht zu spät», sagt sie, vielleicht einfach so, ich weiß es nicht.
    «Dann kann ich ja auch – ich mein, ich brauch auch gar nicht gehen», sage ich und bleibe da stehen.
    «Nee, wieso?», sagt Mama. «Estherle, was soll das jetzt? Fahr doch, bring mir mein Auto heil zurück und hab Spaß heut Abend.»
    «Ja, wenn du schon so sagst, ich soll nicht so spät kommen, dann brauch ich auch gar nicht gehen. Ich mein …»
    «Sag mal, was soll das?» Sie fragt es mit dieser vorsichtigen Stimme, die Angst hat, etwas kaputtzumachen bei mir, während sie auf etwas Kaputtes schaut.
    «Ja, ich mein …» Ich nutze den Moment, einen Streit zu entfachen, vielleicht weil er mir dabei hilft, wütend zu gehen, vielleicht weil er mir den Schwung gibt, das Haus zu verlassen: «Was soll denn die Scheiße, Mama?» Und ich äffe sie nach: «Kommst nicht zu spät – kommst

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