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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Maria Magnis
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nicht sterben muss an seiner Gegenwart. Ich würde ihn dafür preisen, wäre es nicht so schlimm.

16
    Ein weißes, kahles Kirchenschiff. Fünfziger-Jahre-Bau. Die Decken hoch, die Lampen hängen an braunen Kabeln in den Raum hinein, alles um mich verschwommen. Ostern, ein Jahr nach Papas Tod. Ein Jahr eigentlich auf den Tag genau, denn er war Ostersonntag morgens gestorben. Und jetzt ist es wieder Ostersonntag morgens, gleiche Uhrzeit, Papas Todesstunde, die Gemeinde singt «Christus ist auferstanden», und ich kämpfe dagegen, mich nicht zu übergeben, weil ich vollkommen betrunken bin. Alles um mich dreht sich, beim Ausatmen durch die Nase rieche ich den Wodka, den ich bis vor zwei Stunden noch gekippt habe, als ich allein durch den Wald bei unserem Haus getorkelt bin.
    Mein Bruder Johannes war am Abend vor diesem Ostersonntag vom Internat nach Hause gekommen. Ich war froh, dass er da war. Wir drückten uns ganz lange im Türeingang, bis es ihm peinlich war und er sagte, dass er von unseren alten Pfadfinderfreunden gehört hätte, dass heute irgendwo Grillen sei. Er wollte da hin – ob ich mitkomme. Ich wollte erst nicht.
    «Och, Eschterle», sagte er, tätschelte mit beiden Händen meine Wangen. Dann legte er mir den rechten Arm um die Schultern, zog mich an sich heran und raunte mir direkt ins Gesicht: «Dein Vater, mein Kind, dein Vater hätte sich das auch sehr gewünscht heute Abend, dass du mit deinem Bruder grillen gehst. Komm, mh, Mäuschen, tu’s für Papa.» Wir lachten.
    Auf dem Weg zu unseren Freunden machte er sich mit dem Feuerzeug ein Bier auf, wir teilten es. Wir gingen am Waldrand entlang, und der scharfe Geruch vom Bärlauch, der zwischen den Bäumen wuchs, ziepte uns in der Nase. Die Sonne stand tief. Der Boden war matschig. Johannes erzählte Geschichten aus dem Internat und musste immer wieder abbrechen vor Lachen über zwei seiner Mitschüler, die mit ihrer versnobten Gelecktheit und den wahnsinnigen Ansichten eigentlich ins Gefängnis gehört hätten, wenn sie nicht gleichzeitig so großartig und gebrochen, so kindlich anrührend und bekloppt gewesen wären. Es hätte Momente gegeben, in denen sie für Sekunden, vielleicht aus Herzschmerz, sich verwegen fragten, ob es im Leben wirklich nur aufs Geld ankommt, und wenn man dann dieses kleine Licht der Erkenntnis in ihren Augen aufflackern sah, könne man nicht anders, erklärte Johannes, als sie liebzuhaben. Ich war so froh, dass Johannes da war.
    Die Pfadfinderfreunde saßen an einer Garage, etwa zwanzig Minuten zu Fuß von unserem Haus entfernt. Wir waren schnell betrunken. Johannes wollte irgendwann um halb zwei, dass ich mit ihm nach Hause gehe. Er war müde von der Reise. Ich wollte nicht. Er lallte einen seiner Freunde an, dass der mich dann bringen solle, und zog ab, wankend. Drehte sich noch mal um: «Denk dran, dass wir morgen um sechs in die Ostermesse mit Mama müssen. Du kannst hier nicht pennen. Denkste dran, ne?» – «Mh», machte ich und blieb sitzen. Weiß nicht mehr, warum. Wenn ich betrunken bin, will ich nicht, dass es aufhört.
    Einer der Jungs vor der Garage schlief im Sitzen ein, das Kinn im Jackenkragen versunken, die Bierflasche mit beiden Händen auf dem Schoß. Ich prokelte und stocherte mit der Fleischzange in der Asche vom Grill. Ich weiß nicht mehr, wie spät es war, wie lange ich noch saß, meinen Rausch passieren ließ. Als ich gehen wollte, wachte der im Stuhl auf und lallte: «Warte, Esther, ich bring dich», und ich lallte zurück: «Quatsch. Schlaf. Ich geh allein.» Und ging. Die angebrochene Flasche mit dem Billigwodka in der Hand. Ich eierte über den Hof vor der Garage, lief auf der Straße, die leicht bergauf führte, und bog dann nach rechts in den schwarzen großen Tunnel aus Bäumen, die ein riesiges Tor bildeten, so hoch, dass LKWs hineingepasst hätten. Obwohl ich den Wald kannte und wusste, dass ein paar Meter nach dem Waldeingang eine Schranke kam, die den Autos die Zufahrt versperren sollte, stieß ich im Dunkeln mit der Hüfte dagegen. Ich blieb erst mal ein bisschen blöd halb angelehnt dort stehen, nahm noch einen Schluck. Konnte mich nicht entscheiden, ob ich drunter durchschlüpfen oder oben drübersteigen wollte. Zu faul für beides, zu betrunken. Ich fuhr mit der Wodkaflasche an der Schranke entlang und hörte dem hohlen, schrabbelnden Geräusch des Glases auf dem Eisen zu. Am Ende der Schranke angelangt, da, wo das schwere kastenförmige Gegengewicht aus Beton lag, klirrte die

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