Gott Braucht Dich Nicht
nicht zu spät.» Ich äffe sie übertrieben nach, es ist peinlich. «Was soll das? Kannst doch froh sein, wenn ich geh. Ich komm hier doch eh nicht weg. Ich häng am Bett von Oma. Kommst nicht zu spät. Ich komme nie zu spät, weil ich nie gehe, und jetzt, wo ich es fast geschafft habe, schmeißt du mir den Knüppel zwischen die Beine …» Ich ziehe meine Oberlippe hässlich nach oben, so wie ich als Kind schon nachgeäfft habe. «Kommst nicht zu spät. Was heißt das denn? Lass mich nicht alleine? Warum willst du nicht, dass ich weggehe? Weil ich noch ein Leben habe, und du nicht, oder was?»
Es ist absurd. Was ich sage, ist absurd, die einzigen Gäste, die ins Haus kommen, sind Gäste meiner Mutter, der Einzige, der Termine hat, ist meine Mutter.
«Ich bleib hier», sage ich, «fuck it, scheiß doch drauf», und habe die Schwelle der Haustür vor Augen. Sie ist nicht mal hoch. Es ist eher nur eine Ritze im Boden, die das Haus vom Außen trennt, also warum ist das so schwer? Warum brauche ich den kompletten Lebenssinn, um diesen Schritt da raus zu schaffen? Warum will es so viel Kraft haben, warum ist Sinnlosigkeit so schwer wie die Tonnen von Wasser aus dem Meer, und warum muss ich alleine auf der anderen Seite der Waagschale rumspringen und hüpfen und Luft anhalten und versuchen, ein Gewicht zu bekommen, damit sich etwas zu regen beginnt?
Nichts. Auch meine Wut hat kein Maß und zählt nicht. Sie ist ein kleiner Wind gegen die absurden Massen auf der anderen Seite.
«Esther, das ist doch nun wirklich Quatsch.» Sie richtet sich im Sofa auf, stellt den Ton vom Fernseher ab. «Kein Mensch sagt, dass du hierbleiben sollst. Ich meinte nur, dass du nicht so spät kommst, ach, was weiß denn ich, morgen bist du dann so verkatert, dass es dir schlechtgeht, das wollte ich nicht. Ich möchte, dass du gehst und deine Freunde triffst.»
Ich schreie: «Das sind nicht meine Freunde! Ich kenn die nicht! Scheißkinder, ich kenn die Scheißkinder nicht!» Mama ist jetzt stumm, ich bleibe noch kurz in der Tür stehen in der Hoffnung, dass sie etwas sagt, was bei mir irgendwas bewegt, um gehen zu können, oder um die Bestätigung zu bekommen, dass ich nicht gehen darf, weil sie sonst traurig ist oder Hilfe mit Oma braucht. Ich verlasse das Zimmer, schließe die Tür fest, laufe die Treppen nach oben, die letzten Schritte sind sehr anstrengend. «Scheiße», flüstere ich leise.
«Hallo?» Es ruft aus Omas Zimmer. «Hallo!» Ich gehe hinein.
«Ja», sage ich, «kannst nicht schlafen, Oma?»
«Nai», sagt sie, «es zieht. Hier zieht’s. Ich denk, des kommt von der, ja, wie haben sie das genannt? Der kleine Choreograph, hätt sie gsait, wenn’s nicht regnen tät, das hätt ihn wunderbar beeindruckt.» Und ihr leises Sprechen zieht mir den Mantel aus, bindet meine geföhnten Haare zu einem Zopf, löst die hochhackigen Schuhe, und ich setze die Schnabeltasse an und bleibe noch ein wenig sitzen, bis ihre Hand ruhig wird. Und meine auch. Das letzte Geräusch ist das Knipsen vom kleinen Lichtschalter an Omas Bett. Jetzt ist es dunkel, Omas Atem rasselt ruhig vor sich hin, während sie schläft, und wir sind stattliche Schatten neben dem Schrank und dem Schreibtisch, dem Rollstuhl und dem Bett. Nach einer Stunde oder nach zweien, das kann man ja nie so genau sagen in den Krankenzimmern, da fühlt es sich so an, als ob mir die Haare ausfallen, mir geht da jedenfalls etwas verloren, etwas Leichtes, Trockenes wie Haare, die zum Boden segeln und sich wegkehren ließen, wenn sie störten.
15
Vielleicht hielt Gott damals die Luft an. Vielleicht hatte er seine Brust tief eingezogen und mir davor einen neuen Platz eingeräumt, an dem ich mich frei bewegen konnte – frei von ihm, sofern man das als Mensch überhaupt kann. Ich weiß es nicht. Ein Vakuum.
Es gibt in der Stille des Gottes, dem diese Welt gehört, einen Raum für die, die ihn nicht wollen. Und wenn seine Ferne und sein Schweigen nicht so unerträglich wären, dann würde ich heute Hymnen und Gedichte schreiben auf die Stille um Gott, und auf seine Ferne, die uns atmen lässt und keinen Zwang kennt. Wenn es nicht so schlimm wäre ohne ihn, dann würde ich dieser Freiheit große Tempel bauen und die Mitte leer lassen und ebendiese Leere verehren, als Ort, an dem nicht gekrochen werden muss.
Wenn es nicht so schlimm wäre, in der Ferne, dann würde ich Gott preisen für den Raum, in dem einen keine Blitze treffen, in dem man nicht in die Knie gezwungen wird, in dem man
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