Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Maria Magnis
Vom Netzwerk:
über die Haut. «Das ist nun wirklich egal», wiederholte sie weich und lächelte.

14
    Ich war jetzt immer im Wald, wenn ich schwänzte. Eigentlich jeden Tag. Meistens ging ich zu einem Turm, den wir als Kinder Rapunzelturm genannt hatten, weil er aussah wie aus einem Bilderbuch. Kreisrund, aus großen schweren grauen Steinen, oben mit Zinnen und innen einer Wendeltreppe. Eine der Zinnen war abgebrochen, und auf deren Stumpf saß ich stundenlang und rauchte. Die Stadt konnte man vom Turm aus nicht mehr sehen, so wie früher. Die Bäume waren zu hoch gewachsen, aber manchmal hörte man den Zug, der übers Land fuhr und bei den Bahnübergängen sein Signal tutete. Wenn hin und wieder ein Jogger oder jemand mit seinem Hund vorbeikam, hockte ich mich hinter die Zinnen auf den Boden. Meistens kamen sie nicht hoch. Sie drehten eine Runde um den Turm, verschnauften und liefen wieder bergab. Ich mochte, wenn ich ein Reh schrecken hörte und dadurch wusste, dass jemand kam.
    Ob es da oben auf dem Turm war oder in der Schule oder zu Hause, weiß ich nicht mehr, aber ich entdeckte damals in dieser Schwänzzeit etwas Neues. Meine Aggressionen ließen nach. Ich verlor die Wut über das Irrationale im Denken meines Umfeldes. Ich schämte mich, als ich erkannte, dass ich mich nur deshalb darüber aufgeregt hatte, wie andere Menschen, die nicht an Gott glaubten, mit Leben und Tod umgingen, weil ich selber so große Angst vor der Sinnlosigkeit dieses Lebens hatte. «Egozentrisches Kleinkind bist du, kümmerst dich um die Weltanschauung der anderen, um vor deiner zu fliehen.»
    Die Wolken zogen im Winter schnell über den Turm hinweg. Dichte Teppiche. In ganz schwachem Grau. Und vor dem Turm wippte ein Vogelbeerbaum im Wind. Die kleinen Vögel, die sich daraufsetzten, sahen einen manchmal an. Hüpften und balancierten auf dem dünnen Ast und fraßen ihre Beeren. Wenn ich mich sehr bewegte, rissen sie ihre kleinen Flügel auseinander, flatterten so schnell sie konnten und erzeugten damit ein Geräusch, das ironischerweise das Gleiche ist, das entsteht, wenn man kleine Federkissen aufschlägt.
    Wie lang lebt so ein Spatz?
    Egal.
    Warum sind wir hier?
    Man weiß es nicht.
    Wenn es regnete oder schneite, hockte ich mich im Turm an den Fuß der Wendeltreppe. Da unten lagen zertretene Tempotücher, und es roch nach Urin.
    Was soll ich tun?
    Was dich in der kurzen Zeit hier glücklich macht.
    Ich weiß nicht, was das ist. Wenn mich jemand fragt, was würdest du morgen gerne tun, du hast alles Geld der Welt, du hast jeden Wunsch frei, wenn eine Fee vor mir stünde – ich müsste weggehen. Ich weiß nicht, was mich glücklich machen würde, außer dass Papa wieder da ist.
    Dann hast du Pech gehabt. Dann ist dein Leben eben beschissener als das von den anderen. Sinnlos sind sie alle. Aber manche lachen mehr als die anderen. Manche haben mehr zu essen. Manche haben es wärmer. Du könntest dich einsetzen, dass es Menschen ohne Essen bessergeht. Das wäre doch sinnvoll.
    Warum?
    Das wäre doch gut.
    Was ist gut?
    Na ja, dass dieses Leben hier angenehm verläuft.
    Warum ist das gut?
    Damit der Mensch nicht leidet.
    Man könnte ihn auch einfach töten. Dann leidet er auch nicht mehr.
    Man darf Menschen nicht töten.
    Warum nicht?
    Weil jeder ein Recht auf Leben hat.
    Wer sagt das?
    Der Mensch.
    Woher will er das wissen?
    Das weiß er nicht. Das glaubt er. Das findet er vernünftig.
    Nicht alle.
    Stimmt.
    Hussein nicht.
    Ja.
    Goebbels auch nicht.
    Ja.
    Warum sollte das nicht wahr sein, was die denken?
    Es geht nicht um Wahrheit.
    Worum dann?
    Es geht darum, dass jeder Mensch seine paar Jahre hier so gut wie möglich verbringen kann.
    Wozu?
    Weil es die einzigen Jahre sind, die er hat.
    Ist das wahr?
    Es gibt keine Wahrheit.
    Worüber reden wir dann?
    Stille.
    Worüber reden wir dann? Ich hab gefragt, worüber wir dann reden! Es gibt keine Wahrheit? Wozu habe ich dann je ein Gespräch geführt? Sag das!
    Warum sprichst du dann mit mir? Sag das!
    Da war niemand.
    Ein Lächeln? Ja? Weiß ich nicht. Vielleicht war da auch kein Lächeln. Und den Turm hat es nicht gegeben. Oder es hat ihn gegeben, und es hat ihn nicht gegeben.
    Esther?
    Ja!
    Ich lache.
    Esther?
    Ich hab doch ja gesagt!
    Esther?
    Ja! Hier, ich bin doch hier! Scheiße. Was soll das!
    Esther?
    Esther?

    Stunden und Tage. Und Wochen. Und der Zug fuhr entfernt vorbei und tutete, und die Jogger kamen, und dann tropfte Regen von den Blättern, und die Kirchturmglocken läuteten ihr

Weitere Kostenlose Bücher