Gott Braucht Dich Nicht
erstickt mir im Hals. Diese Bühne will was. Dieser nackte schwarze Holzboden, mit seinen Krümeln und Staubmäusen, der drückt sich mir entgegen. Und der Vorhang ist da und da und da.
Wahrheit, flüstere ich. Ist Gott. Von diesem Fleck hier kann ich nicht weichen, egal, was dahinter ist – es zieht mich. Tage vergehen an dieser Grenze. Nächte vergehen. Ich bleib und bleib und bleibe. Und mit einem Moment ist es da, mit einem Moment weiß ich, dass ich genau da bin, wo ich stehe, dass ich das bin, seit jeher, dass wir vor diese Wand geboren wurden und an ihr sterben müssen, wenn wir leben wollen. Dass der Mensch zusammengefasst in den Zeiten nur einen einzigen Moment im Leben hat, und das ist der vor Gott.
Das Leben des Menschen ist immer das vor Gott, und auch wenn Bäume wachsen und Hochhäuser gebaut werden und Theorien sich ändern, wenn ich vor Büchern sitze, mein Studium beende, mir einen Köter kaufe und Kinder kriege und dann alt werde, all dies wird vor diesem Vorhang geschehen, auch wenn ich es nicht sehe.
Die Alten in den Heimen starren diese Wand an, weil sie nicht mehr wegkommen, auch wenn sie Poster mit Kätzchen davorhängen. Ich bin gefangen genommen, schon jetzt, und auch wenn ich Angst habe vor dem Dahinter, auch wenn es bedeutet, dass es mir die Welt noch mal zerstört, verstehe ich, dass es nichts innerhalb dieser Welt zu tun gibt, als den Geist anzusprechen, der meinen entstehen ließ.
Warum? Weil dort Wahrheit ist. Wahrheit über mein Leben, über Papa, über uns alle.
Kein Wind im Vorhang, keine Schritte hinter dem schwarzen, schweren, dichtgewebten Stoff. Es ist jetzt dunkel geworden. Nichts erkannt. Weiß ich. Alles, was ich je wusste, ist gegangen. Nur die Staubknäuel und die Krümel auf dem Holz, wenn man mit den Händen darüberfährt. Ich habe zu knien begonnen. Es ist ausgeschwiegen. Nur noch ein einziger gleichmäßiger Schlag in meinem Dasein.
Gott?
7
Der einzige Grund, sich davor zu fürchten, Gott das eigene Leben zu geben, ist, wenn man glaubt, man habe einen besseren Plan. Man habe die Wahrheit und wisse, warum man hier ist. Ich weiß es nicht. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu folgen und hinterherzustolpern und mir im Zweifel meine Wirklichkeit aufs Neue zerhauen zu lassen.
Dafür muss man sich eingestehen, dass man keine Ahnung hat von der Welt und dem eigenen Leben und dem, wie man selber ist und sein soll.
Jeder weiß, wie nervig es ist, zwei Leute zu beobachten, die sich unterhalten. Der eine ist zum Beispiel durch und durch Musiker, kennt sich aus, und der andere hat keine Ahnung. Anstatt zuzuhören, will er aber nicht seine ganze Persönlichkeit hintanstellen, will nicht sein Denken lassen und wirft mittelintelligente Kommentare ein. Fragen, die behindern, die nur gestellt werden, damit er nicht aufgeben muss vor dem Genie. Damit er so da ist, wie er sich versteht. Vielleicht nicht gleich als Genie, gut, ja, wer ist das schon, okay, der Mann gegenüber, aber man kann sich ja trotzdem unterhalten … So war ich nicht mehr vor Gott. Und wie befreiend, man stelle sich die Situation mit dem Musiker vor, wenn dieser, das Genie, den dummen Schwätzer vor sich zusammenbrüllt, hineinfährt mit aller Gewalt, die Wahrheit in den Raum stellt, zu der sich der Schwätzer dann verhalten kann, oder eben auch nicht. Ich habe beides getan: das Genie als Genie erkannt – und aufgehört zu quatschen.
Auch wenn Gott nicht gebrüllt hat, auch wenn er nicht hineingefahren ist in mein Leben, die Erkenntnis, dass er Gott ist, war das Lauteste, was ich jemals gehört habe. Dazu musste ich mich verhalten. Es war das Stärkste, was ich kennengelernt habe, und ich schließe, wenn ich das sage, alle Tode, die ich erlebt habe, mit ein.
Ich wusste aber schon damals, dass ich den Schritt, mich an ihn zu wenden, vermutlich nur gewagt hatte, weil ich letztendlich doch hoffte, dass die Religionen recht hatten, die behaupteten, dass Gott die Menschen liebt und angesprochen werden will. Ohne diesen Hintergrund hätte ich es vielleicht nicht gewagt.
Heute sehne ich mich manchmal zurück nach dieser Zeit, in der ich mich Gott zuwandte und ihn um Vergebung bat. Nein, das stimmt gar nicht, nicht nach der Zeit. Nach da unten.
Ich sehne mich nach diesen Stellen auf dem Boden, wo man entkleidet wird und einem die Welt abhandenkommt.
Wo die Zepter aus den Händen gleiten und die Ehre des Vaters nicht mehr gehalten werden muss, weil sie verwahrt wird in einer neuen Ordnung, die nicht
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