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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Maria Magnis
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über sie gesungen, und in den Zeitungen, jeden Tag, schreiben sich Journalisten an sie heran, und rechnen sich Physiker ihr entgegen, und manchmal wird sie berührt und manchmal in einen Dreizeiler gequetscht, und manchmal fehlt sie ganz, und manchmal begleitet sie ein Werk. Vielleicht ein Notenblatt von Brahms, und man wüsste wieder nicht, wohin man greifen sollte, um sie zu fassen. Zwischen die Zeilen? Zwischen Notenschlüssel und ersten Takt? Soll man an den Fähnchen der Achtel zupfen, oder soll man gleich seine Faust in die klingenden Hörner bohren oder sich die Worte zu eigen machen und jeden Tag neu sprechen?
    Ich hab die Wahrheit nicht, aber ich glaube, dass es sie gibt, und jeder andere tut das auch, sonst würden wir uns nicht trauen zu sagen, dass die Welt besser werden muss. Wir würden uns nicht trauen zu sagen, dass etwas ungerecht ist, glaubten wir nicht an Wahrheit.
    Und auch wenn ich hier sitze in meinem Zimmer und nichts tue, wenn ich keinen Finger rühre und niemandem davon erzähle – so glaube ich doch, dass es die Wahrheit über diesen Moment gibt. Nicht in unserem Geist, aber irgendwo. Wahrheit bleibt wahr. Das ist ihr Wesen. Sie ist immer absolut. Sie ist erhaben über unser Denken. Sie braucht keine Zustimmung, weil sie wahr ist, und da, und ewig. Vor uns. Nach uns. Ohne uns.
    All dies denke ich, obwohl ich das sicher schon alles gehört habe, obwohl ich in Philosophie über Wahrheit gelesen habe, ich denke es damals zum ersten Mal selbst. Auf dem Dachboden sitze ich und halte die Karteikarten fürs Abitur in der Hand und lasse sie immer wieder sinken. Ein Wind bläst in den Kamin, ein Gedanke kommt auf, eine Fliege am Fenster, der Gedanke verschwindet, ein Auto in der Ferne, und Stille. Noch ein Gedanke, und weiter geschwiegen, dann innegehalten, schon wieder die Ahnung, und noch mal geschwiegen, und Stille weitet um einen den Raum, und an seinen Grenzen: ein Rauschen.
    Wahrheit.
    Ist Gott.
    Mama ruft von unten: «Essen ist fertig.»
    Wahrheit ist Gott.
    Ich liege mit dem Gesicht auf der Schreibtischplatte.
    «Komm runter. ’s wird kalt.»
    «Wahrheit», flüstere ich gegen das Holz vom Tisch, «ist Gott.»
    «Esther!»
    «Scheiße.»
    Ich kann nicht aufstehen. Ich kann nicht antworten.
    «Esther!»
    Wahrheit ist Gott. Das ist klarer als dieses Holz an meinem Gesicht. So klar, ich könnte vom Schritt am Ufer erzählen, es war sehr kalt, und man konnte den Grund sehen und den weißen Kies, mit den durchsichtig grauen, kleinen Fischen, die auseinanderstoben, als mein Fuß sich dem Grund näherte. So klar, und ich sah mein Spiegelbild nicht im Wasser, weil es so durchsichtig war, weil sich darauf kaum etwas brach, und ich konnte mit den Zehen in die Steinchen greifen, die deutlich am Grund – so klar und darüber der Himmel und da die Sonne und ein Schatten von der Tanne am See. Ich bin den Berg doch raufgelaufen, ich war doch oben! Wind. Muschelkalk oder Jade, was soll man reden, welchen Namen geben wir dem allen denn. Scheiß Begriffe, wenn sie nicht mehr heilig sind.
    Ich hebe meinen Kopf von der Platte und starre vor mich hin. Wahrheit ist Gott. Mehr war da nicht, und das war alles. Und das war immer. Das war vor mir, vor Papa, vor den Menschen, vor dem ersten Gedanken, und der war schon Wahrheit, weil er von Gott war, und der wird bleiben, weil er Wahrheit ist. Nach uns und ohne uns.
    Ich hänge immer noch da über der Schreibtischplatte. Und dann stehe ich irgendwann auf und gehe die Stufen nach unten, durch den Flur, noch eine Treppe, in die Küche. Mama und Oma am Tisch. Ich setze mich neben Oma. Mama schiebt mir den Teller rüber, steht auf, «Machst du weiter?», holt was zu trinken, ich nehme Omas Gabel und beginne, verloren in Gedanken, den Fleischbrei mit der Soße zu vermischen, forme ein matschiges Häufchen, schiebe die Gabel darunter und balanciere es zu ihrem Mund.
    «Wo isch die Chlai?», fragt Oma.
    «Hier.» Ich schiebe ihr das Essen in den Mund.
    «Dusse?»
    «Nein. Ich bin hier.»
    Sie wendet mir das Gesicht zu und sieht mit ihren grauweiß belegten Augen knapp an mir vorbei. Kaut. Hält inne.
    «Des isch recht.»

6
    Du darfst bleiben. Ich konnte mich nie an dich gewöhnen. Dass du um mich warst schon, ja. Das schon. Aber die Blumen, aus dem Hut gezaubert, und diese Tröte, ans Ohr gehalten und reingeblasen in den Momenten, in denen ich nicht damit gerechnet habe. Ich weiß nicht. Es ist immer noch still am Vorhang. Am hinteren Teil der Bühne. Tiefblauer, fast

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