Gott Braucht Dich Nicht
nicht nur im Unsichtbaren unsere Nähe sucht, und höchstens seine Stimme hörbar macht und nur etwas mit unserem Geist zu tun haben will, sondern dass er vielleicht wirklich schon einmal näher unter die Menschen gekommen ist. Ich schiebe das kleine Fenster weit auf und klemme den stinkenden orangefarbenen Wollvorhang hinter meine Kopfstütze, damit er mir nicht in das Gesicht weht. Der Geruch von Kräutern und Büschen, die den ganzen Tag in der prallen Sonne standen und aufgewärmt wurden, vermischt sich mit dem Diesel. Es ist dunkel geworden, aber immer noch warm da draußen, und zwischendurch übertönen die Grillen sogar das Brummen des Motors.
Kendauchdich und das Meer, die Sonnenaufgänge und die Morgen mit dem neuen Schnee, jene ahnungsvollen freien Momente in Gnade, wie wir sie erfahren, all diese Momente sind vielleicht gar nicht ahnungsvoll geblieben.
Jene zarten Berührungen von Gott. Es ist nicht ein Klang in der Welt, denke ich, und es ist nicht ein Lied in allen Dingen, nicht Zauberworte, die die feinen Seelchen in seligen Momenten erfahren. Es ist kein Wispern in Frühlingslüftchen und kein himmlisches Flüstern in zarten Klängen, sondern das Wort ist Fleisch geworden. Vielleicht.
Dazu wüsste man nichts zu sagen. Davor müsste man auf die Knie gehen.
Jemand hat die Musik wieder lauter gestellt. Irgendein arabisches Discolied mit alten Streichinstrumenten und Keyboard oder so. Ich zünde mir eine Kippe an. Sitze ganz hinten im Bus. Neben mir sitzt der Priester, der hier mitgefahren ist. «Kippe?», frage ich ihn und biete ihm eine an. Er nickt und zieht sich eine aus der Schachtel. Ich halte ihn natürlich für einen dieser armen, verklemmten Gutmenschen, die auf die Gemeinschaft in der Kirche nur so dringend pochen, weil sie keine Freunde haben. Er hat gerade seine Doktorarbeit geschrieben, «Odysseus am Kreuz. Vom Verhältnis des Christen zur Welt».
«Ich dachte, Katholiken haben kein Verhältnis zur Welt», habe ich gesagt. Da hat er gelacht. «Das ist leider dummes Zeug, was du da redest.» Ich musste lachen. Das Einzige, was ich an der katholischen Kirche zu dem Zeitpunkt im Bus mag, ist, dass man da knien kann.
Wissen tue ich damals eigentlich kaum etwas von der Kirche, außer dass sie natürlich leibfeindlich ist und frauenfeindlich und na ja, muss ich ja nicht aufschreiben, deutsche, postmoderne Allgemeinbildung halt.
Ich schnippe vorsichtig die Asche aus dem Fenster. Dann tippe ich den Priester an.
«Erzähl mir deine Doktorarbeit», sage ich.
«Bitte?» Er verzieht das Gesicht und legt sich die Hand ans Ohr, weil er mich durch die laute Musik hindurch nicht hört. «Erzähl mir deine Arbeit. Mit Odysseus am Kreuz», rufe ich. Er erzählt sie mir. Ganz. Von vorne bis hinten. Es dauert Stunden.
Ich könnte sabbern vor Glück – nonstop nur neue überfordernde Gedanken, nichts vom Regenbogenfreundeskreis-Jesus, nur Philosophenzitate, für mich nur neue Blicke auf alles.
Jede Religion hat schöne, bekloppte, überfordernde Seiten. Aber keine ist so gaga wie das Christentum. In keiner Religion ist der Glaubensanspruch so hoch, wird so viel verlangt wie bei den Christen, deren Gott angeblich am Kreuz gelandet ist. Und die Theologie darüber, die Philosophie dabei, die scheint, das merke ich während dieses Gespräches, einfach extrem weit zu führen, die scheint in ein anderes Land, in eine Fremde zu zeigen und dabei doch ganz einfach zu sein. Irgendwas mit Liebe.
Irgendwas Erstaunliches – eine riesige Zuneigung – ich weiß es nicht – ich würde gerne mehr wissen. Mal sehen.
11
«Esther?»
«Ja.» Ich hatte noch geschlafen, als das Handy unter meinem Kopfkissen klingelte.
«Hey. Hab ich dich geweckt?» Es ist Johannes.
Ich liege im Bett in einem Hotelzimmer. Ich bin 24 Jahre alt.
«Nee, hast mich nicht geweckt, war fast wach.» Ich liege auf dem Rücken und lasse die Augen geschlossen, das Handy klemme ich zwischen Kissen und Ohr.
«Ich wollte dich nicht stören», sagt Johannes, «kann auch später noch mal anrufen.» Seine Stimme ist ganz klein und zurückhaltend.
«Johannes?»
«Ja?»
«Warst du beim Arzt?»
Er sagt nichts.
«Johannes?»
Er antwortet nicht. Ich höre ihn atmen.
«Warst du beim Arzt?»
«Esther, wenn du noch müde bist, dann ruf ich einfach später an», sagt er, als wäre einer von uns beiden nicht ganz dicht. Ich schwinge die Beine aus dem Bett und setze die Füße auf den Boden.
«Was hat der Arzt gesagt, Johannes?», frage ich und
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