Gott wuerfelt doch 1
spurloses
Verschwinden jedoch und die Spuren am Ort des Geschehens seien Grund genug
anzunehmen, so das Gericht, dass es sich auch in diesem Fall um ein
Gewaltverbrechen gehandelt habe.
Das Urteil war
falsch und ich damit einer von den etwa fünf Prozent aller Verurteilten in
Deutschland, die Jahr für Jahr Opfer eines Justizirrtums wurden. Doch ich habe
gelernt, das Urteil hinzunehmen, das am 30. September 1993 ausgesprochen wurde.
Fatal, dass nur ich wusste, dass es falsch war.
Im Falle meiner
Eltern bleibt mir nur eine Möglichkeit: Ich muss dieses Gefängnis verlassen,
und dann muss ich herausfinden, wo sie sind. Nur so kann ich sie von meiner
Unschuld und meiner Identität überzeugen. Das ist wichtiger, als dass die Welt
erfährt, dass ich Walter bin. Denn die Welt ist in ihrem Glauben nicht sehr
erschüttert worden, aber außer mir die Menschen, die mir nahe standen.
*
Ich habe aufgehört
zu trinken. Nicht nur aus dem Grund, weil es hier eigentlich keinen Alkohol
gibt. Ich habe aufgehört, weil ich ihn nicht mehr will. Die Last ist von den
Schultern gefallen, das Urteil ist gesprochen, und man lässt mich in Ruhe.
Seit ich vor
einigen Wochen begonnen habe, meine Geschichte aufzuschreiben, hat sich meine
allgemeine Befindlichkeit gehoben. Es tut gut, wenigstens dem Papier
mitzuteilen, auf welch fatale Weise die Justiz fehlen kann. Das Schreiben hat
mich befreit.
Die erste Zeit fiel
es mir schwer, den Stift in die Hand zu nehmen und ihn zu führen, die Finger
wurden steif, die Hand glitt nicht flüssig. Ich fühlte mich so, als müsse ich
das Schreiben neu erlernen. Jetzt hat mir die Anstalt einen Füller zur
Verfügung gestellt mit richtiger Tinte. Das Schreiben fällt mir nun wieder leichter,
weil meine Schrift durch die Tinte Charakter bekommen hat.
Ich drohte an den schmerzvollen und chaotischen ersten Tagen
nach dem Prozess zu verzweifeln. Doch das Unglück ist über unsere Familie
gekommen, weil es so kommen musste: seit der Zeit, da Mutter und Vater sich
kennen lernten, schwebte etwas Unausgesprochenes über ihnen, und damit war der
Unwahrheit eine potentielle Nische geschaffen. Unwahrheiten gehören zum Alltag
wie lästige Mücken zum Sommer, aber Unwahrheiten müssen eben auch genauso kontrollierbar
sein wie Ungeziefer, sonst fressen sie den Menschen langsam auf. Sie können zum
System werden, sie nisten sich ein wie ein Bandwurm, dann wachsen sie ebenso.
Versucht man sie zu zerreißen, stellt man irgendwann fest, dass sich der Kopf
festgehakt hat. Man muss der Urlüge rechtzeitig den Kopf abschlagen, sonst wird
man an ihr ersticken.
Ich dachte, Vater
hat Mutter niemals alles über seine Vergangenheit erzählt. Ich will nicht so
weit gehen, dass ich sage, er sei ein Lügner gewesen. Aber das ist auch kaum
von Bedeutung. Wichtig ist vielmehr, wie eine solche Unwahrheit empfunden wird.
Er hat sich selbst ins Abseits katapultiert, weil sie entlarvt wurde, als es
schon längst zu spät war. Er hat dadurch seinen Lebensvertrag mit meiner Mutter
gebrochen.
Ich habe mich in
letzter Zeit öfter auf den Rücken gelegt und die Augen geschlossen. Ich sehe
die Wälder und Berge meiner Kindheit, ich sehe das Meer, die Flora und Fauna
des Mittelmeeres, ich rieche das Essen und den Wein, und ich spüre Anna, wie
sie neben mir liegt und mich streichelt. Die Liebe zu all diesen Dingen und zu
dieser Frau hält mich am Leben. Erinnerung scheint hier drinnen für mich der
Ersatz für das Abenteuer zu sein, das ich in Freiheit so genossen habe. Doch
erst die Liebe gibt der Erinnerung diese farbige Gestalt.
Die Liebe ist ein
essentielles Phänomen. Sie ist von außergewöhnlich schöpferischer Kraft, sie
lässt sogar virtuelle Welten entstehen, wenn ich die Augen geschlossen habe;
alles sehe ich vor mir, als wäre es Wirklichkeit; und ist es somit nicht auch
Wirklichkeit? Ist die Bedingung für Wirklichkeit, dass andere sie objektiv
nachvollziehen können? Oder ist Wirklichkeit die Summe aller Meinungen über die
Wirklichkeiten, die sich jeweils in einem Kopf abspielen? Oder bestimmt Gott,
was Wirklichkeit ist?
Es war eher ein Zufall, als sich vor tausendfünfhundert
Millionen Jahren die ersten Zellkerne in der einzelligen Fauna bildeten. Sie
trugen Informationen in sich, die das genetische Erbe weitergeben konnten.
Dadurch aber war auch ein Austausch oder eine Kombination dieser
Erbinformationen möglich geworden, damit war der Grundstein für die
Zweigeschlechtlichkeit geschaffen. Es war die schönste Erfindung
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