Gott wuerfelt doch 1
der Natur: die
Liebe, als Startschuss für die Explosion der Arten.
Die Evolution ließ
also die Liebe zu, und der Drang nach neuen Lebensformen nahm seinen Lauf.
Alles Mögliche und nahezu Unmögliche wurde von der Natur ausprobiert und auch
wieder gefressen. Lebensfähige Formen setzten sich durch, und sie starben
wieder aus, wenn sich die Bedingungen änderten. Die Naturgeschichte ist voll
von diesen Ereignissen. Im Zentrum aber stand stets die Fortpflanzung, die erst
mit der Liebe an Dynamik zulegte. Die Liebe aber kann noch mehr: Sie kann uns
beflügeln, Dinge zu erkennen, zu denen Geister in Körpern ohne Liebe niemals
gelangen werden. Die Liebe sorgt für die Vermehrung, aber sie sorgt auch für
die Kraft der Kreativität: Denn die bisher höchste Form der Evolution, der
Geist im Menschen, hat die Liebe vorangebracht. Die Liebe in ihrer höchsten
Form betrifft auch die Dinge um uns herum; Schönheit zu sehen und zuzulassen
ist ebenso von Bedeutung, wie Zusammenhänge verstehen und Menschen zu achten.
Liebe ist etwas Konkretes und doch Unfassbares, das sich letztendlich mit dem
Guten beschreiben lässt. Ich darf es nicht wieder zulassen, dass das Gute in
meinem Kopf sich zurückzieht. Ich denke seit Wochen über Gerechtigkeit nach,
und ich habe hier in dieser Enge eine für mich bedeutende Erkenntnis gewonnen:
Das Gute ist wirklich sehr nahe verwandt mit der Liebe.
Wenn die Worte
meines Vaters stimmen, die Liebe sei die stärkste Kraft, so kann das Böse
niemals siegen. Das Böse verschwindet in dem Moment, wo es sein Ziel, Unheil zu
stiften, erfüllt hat. Denn würde es bleiben, wäre es überführbar. Das Böse ist
verwandt mit dem Hass. Hass aber verschwindet in dem Moment aus der Seele, wenn
ein gehasster Mensch aufgehört hat zu existieren, und die Liebe hat wieder
Platz. Liebe jedoch verschwindet nie, auch nicht, wenn ein geliebter Mensch
verschwunden ist. Ich halte diese Erkenntnis für ein Gesetz, für mein Gesetz.
Ich spüre in jedem Fall die Liebe immer noch in mir, obwohl Anna nicht mehr da
ist, obwohl ich meine Eltern nicht mehr sehe, obwohl Konrad gestorben ist. Denn
die Liebe ist das Einzige, was ich noch habe! Der Gram in mir wird nicht siegen
können, solange ich die Liebe in mir trage, die Liebe zu meiner Kindheit und
die Liebe zu den Menschen, die mich geliebt haben.
*
Es ist Mitte
Dezember 1999. Es wird das siebte Weihnachtsfest sein, das ich in Gefangenschaft
verbringe.
Lange Jahre sind
seit dem Ende des Prozesses vergangen, die letzten Zeilen an diesem Bericht
habe ich vor etwa drei Jahren aufgeschrieben. Ich halte die Papiere jetzt
wieder in der Hand, sie sind am Rande vergilbt, und die Tinte in den oberen
Blättern ist ausgebleicht. Ich will meine Geschichte fortsetzen, weil etwas
Entscheidendes geschehen ist. Es erscheint mir wert, aufgeschrieben zu werden
und dort zu beginnen, wo ich über die Liebe berichtet habe.
Über die letzte
Zeit gibt es nicht viel zu sagen. Denn das Leben in Gefangenschaft ist nicht
sehr abwechslungsreich. Es ist wie der Tod, nur dass der Leib noch zuckt. Ich
wurde zum Nichtstun verurteilt. Mein Körper verfällt immer mehr, denn das
Altern hat merklich gegriffen. Sind die Telomere eine Funktion der Freiheit?
Ich würde diese Frage gern mit meinem Vater diskutieren, der mir jedes Jahr zu
Weihnachten einen sehr allgemein gehaltenen Brief ohne Absenderadresse
geschrieben hat. Die Briefe wurden alle in verschiedenen Ländern aufgegeben,
jedes Mal an einem anderen Ort.
Ich spüre das
dringende Bedürfnis, Sport zu treiben, denn meine Gelenke scheinen zu rosten.
Der ewige Schatten hat mein Gesicht bleich werden lassen. Mein Geist ist zwar
noch aktiv, aber er versteigt sich in ungewöhnliche Ansichten über die Welt,
deren Bewertung er gar nicht mehr fähig ist, denn er kennt sie längst nicht
mehr.
Meine psychische
Verfassung schien sich anfangs nach der Urteilsverkündung aus dem absoluten
Tief stetig empor zu hangeln; es gab natürlich immer wieder Löcher, in die ich
hineinfiel. Ich schien mich jedoch an den Zustand des Gefangenseins in gewisser
Weise zu gewöhnen. Und bei lebenslänglicher Haftstrafe musste ich das wohl
auch, so redete ich mir ein!
Jetzt aber geht es
mir merklich besser. Und das verdanke ich einem Menschen, der mich hier drinnen
gefunden hat. Niemand hier in der Justizvollzugsanstalt (wie das Gefängnis
jetzt heißt) glaubte mir meine Geschichte, aber damit hatte ich ja gerechnet.
Die Mitgefangenen meiden mich, ich bin ein Brudermörder.
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