Gottes blutiger Himmel
Stumpf verblieb er da, wo er saß, bewegte kein Augenlid und überließ mich meiner Verzweiflung und Hilflosigkeit. Vielleicht hielt er mich einfach für einen egoistischen Vater, der diesen ganzen Lärm nur veranstaltete, um seinen Sohn zurückzubekommen. Und darin lag sogar ein Körnchen Wahrheit, auch wenn es mir um mehr ging als das. Aber er rührte sich nicht. »Tu doch etwas, um mich zum Glauben zu bekehren!«, schrie ich ihn an.
Er öffnete den Mund und sagte, ohne sich umzuwenden: »Geh hinaus. Die Menschen haben keine Antworten. Ich warte auf eine Antwort von Gott.«
Auf diese Antwort konnte er lange warten, ging es mir durch den Sinn.
15
Zornig und mutlos ging ich zurück zu Samers Gruppe. Der Geruch von frischem gewürztem Tee lag in der Luft, Samer machte mir neben sich Platz und goss mir eine Tasse ein. Mir fiel gleich auf, dass Hazem fehlte, oder Abu Ubada, wie ihn die anderen nannten. Ich glaubte, er sei irgendwo in der Nähe, und fragte auch deshalb nicht nach ihm, weil ich keinen Verdacht erregen wollte. Das Gespräch drehte sich darum, inwieweit die Ausübung des Dschihad Vorrang vor der pünktlichen Verrichtung des Gebets habe. Samer führte gerade aus, der Dschihad sei die Bekräftigung der Göttlichkeit Gottes auf Erden und eine Absage an jeden Götzendienst, der die Menschen in moralische Dekadenz und geistigen Bankrott führe. Die Herrscher und die mit ihnen verbündeten ausländischen Ungläubigen stünden mit ihrer Tyrannei der absoluten Herrschaft Gottes im Wege. Herrschaft komme keinem Präsidenten, keinem König und keinem Emir zu, sondern allein Gott. »Es gibt keinen Herrscher außer Gott!«, bekräftigte er. Dann richtete er seinen Blick auf mich und beendete seine Ansprache, indem er sagte: »Wir kämpfen Gottes Schlacht auf Erden, die Schlacht der Wahrheit und des Glaubens. Wir sind Gottes Soldaten, und im Paradies werden wir vereint sein, wenn es Gott gefällt.«
Schon während seiner Ansprache hatte er immer wieder flüchtig zu mir herübergesehen, und es erinnerte mich daran, wie er mich als Kind angesehen hatte, wenn er fürchtete,ich könnte etwas entdecken, was er heimlich angestellt hatte. Samer hatte irgendetwas angerichtet, und ich ahnte nichts Gutes. Ich überlegte, was es sein könnte, und beobachtete ihn. Als er mich fest anblickte, begriff ich, dass er mich genarrt hatte. Ich folgte wieder dem Gespräch der Gruppe und entnahm ihm, dass der Algerier Abu Aiham nun doch die Idee der Selbstopferung unterstützte. War es das gewesen, was Samer am Abend zuvor erreicht hatte? Hatte er einen Kämpfer dazu überredet, sich in die Luft zu sprengen, und empfand das als großen Sieg?
Nun ließ Samer die anderen weiterreden und heftete seine Augen auf den Fernseher. Offenbar wartete er auf die Nachrichtensendung. Der Marokkaner fragte ihn nach Abu Ubada, und Samer antwortete: »Er ist gegangen. Möge Gott mit ihm sein.« Ich begriff nicht. Er hatte doch mit mir fahren sollen. Warum war er jetzt allein aufgebrochen? Und wenn Samer ihm erlaubt hatte zu gehen, warum hatte er mich nicht mit ihm losgeschickt? Hazem hatte mir nichts gesagt. Hatte er mich nicht wecken wollen? Das kam mir unwahrscheinlich vor.
Samer hatte nicht auf irgendwelche Nachrichten gewartet, sondern auf eine Eilmeldung, mit der jetzt plötzlich die laufende Talkshow unterbrochen wurde. Ein Selbstmordattentäter hatte sich vor einer Moschee in der Nähe eines belebten Marktplatzes in die Luft gesprengt. Verschreckt umherrennende Menschen wurden gezeigt, die versuchten, sich von dem Markt zu entfernen, auf dem sie eine zweite Explosion befürchteten. Dann sah man, wie sie aus der Ferne zum Markt hinübersahen. Die Szenen waren zufällig kurz nach der Explosion gefilmt worden, als die Menschen noch unter dem Schock der Detonation standen. Nachdem die Polizei die Kontrolle übernommen und die Leute beruhigt hatte, füllte sich der Marktplatz wieder mit Verkäufern, Kunden und Kindern.
Ein Polizeisprecher erklärte, es habe nur Sachschäden gegeben, da der Selbstmordattentäter seine Bombe nicht direkt auf dem Platz, sondern fern der Menschenmenge gezündet habe. Ein Augenzeuge berichtete, der Attentäter habe abseits einer Haltestelle gestanden, wo Berufspendler auf ihre Busse gewartet hatten. Als einige Menschen aus einer Moschee in seine Nähe gekommen seien, habe er ihnen zugerufen, sie sollten sich fernhalten, damit ihnen nichts passiere. Dann sei er in die Luft geflogen. Nun sah man einen bewaffneten
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