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Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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Der erste Tag
    Herbst 1990
    Freitag – in den Nachmittagsstunden
    Nach der Beerdigung kehrte ich zurück in die Wohnung meiner Mutter.
    Fast ein Jahr lang war niemand mehr hier gewesen.
    Seit meine Mutter ins Krankenhaus eingeliefert worden war, war das Eisentor verriegelt, hatte das Licht nicht gebrannt, waren die Fensterläden geschlossen. Trostlos und verlassen war die alte Wohnung mit ihren zwei Zimmern, dem Vorraum, der Küche, dem Badezimmer und dem Balkon.
    Als ich die Tür aufmachte, empfing mich der Geruch von Moder.
    Auf der Kommode im Vorraum lag eine Schachtel Streichhölzer, und daneben stand, wie immer, ein Seelenlicht, das für einen der Toten meiner Mutter bestimmt war. Ich zündete es an und öffnete die Fensterläden.
    Die dunkle Wohnung wurde von blassem Licht erleuchtet.
    Beim Licht des Kerzchens entstanden vor mir die Schabbatabende meiner Kindheit: glänzende silberne Kerzenständer, eine weiße Tischdecke und darauf kleine Burgen aus erstarrten Wachstropfen, in der Mitte des alten Tischs ein süßes Schabbatbrot, Rotwein für den Kiddusch, zwei Weingläser, zwei Porzellanteller – und um den Tisch nur eine Mutter und eine Tochter.
    Die Zimmer der Wohnung waren erfüllt von meiner Mutter, vom Klang ihrer Stimme, vom Glänzen ihrer braunen Augen, und aus der Küche drang der Duft von Suppe und Kuchen.
    Ich erinnerte mich, wie sie freitags die Hände über den Schabbatkerzen ausbreitete, die Lippen zusammenpreßte, die Augenschloß und schwieg. So stand sie immer vor dem Kerzenlicht, ohne den Segen zu sprechen und ohne zu beten. Ihre Beine waren schwer und geschwollen, und in ihr Gesicht hatte sich ihr Leid in vielen Falten eingegraben – sie war vor der Zeit gealtert. Nur ihre Hände über den Kerzenflämmchen zeigten, wie schön sie hätte sein können.
    Ihre Hände waren zart, glatt und weiß, mit langen, schmalen Fingern, die Hände einer Dame.
    Nur ein Finger, der kleine, war steif und verkrümmt.
    Warum hat sie so einen Finger? hatte ich mich gewundert, als ich klein war.
    Und sie gefragt: »Mama, wo ist dein kleiner Finger?«
    »Er versteckt sich in der Hand«, antwortete sie, und ich mußte sehr lachen.
    Als ich älter war, wagte ich wieder zu fragen: »Mama, was ist mit deinem kleinen Finger passiert?«
    »Das ist eine Erinnerung an dort«, antwortete sie, »an die Zeit, als unser Gott die Welt verlassen hat.« Ohne eine weitere Erklärung.
    Und ich hörte auf zu fragen.
    An diesem Abend sah ich die schönen Hände Helenas, meiner Mutter, vor mir. Ich erinnerte mich daran, wie der verkrümmte Finger die
     Blicke der Menschen auf sich gezogen hatte, wie die Kinder flüsterten: »Schaut doch, das ist die Frau ohne kleinen Finger«, wie sie stolz zu mir gesagt
     hatte: »Ich habe hier allein, mit neun Fingern, eine Familie aufgebaut.«

    Lautes Klopfen an der Tür riß mich aus meinen Erinnerungen. Vor mir standen zwei alte Frauen.
    Die eine war klein und dünn, nur Knochen und Falten, die zweite groß und dick. Sie standen mit verschränkten Armen in der Tür, so aufrecht, wie es ihnen möglich war, und im Kerzenlicht waren die Nummern auf ihren Armen zu sehen.
    Die kleine, magere Alte kam mir bekannt vor, aber nach so vielen Jahren war mir ihr Name entfallen. Doch der zweiten, der großen, das hätte ich schwören können, war ich noch nie begegnet, obwohl mir ihre Stimme vertraut schien.
    »Warum hast du uns nicht zur Beerdigung eingeladen?« fragten sie mich im Chor.
    Jentes * , dachte ich, zwei jentes , und suchte nach einer angemessenen Antwort, aber die beiden erwarteten gar keine Antwort, sie fragten weiter: »Und warum sitzt du nicht Schiwe, wie es sich gehört?« Sie schauten sich mit großen Augen um und fragten: »Und wo ist die Familie?«
    »Mein Mann ist zu Hause geblieben, mit den Kindern, und sonst gibt es niemanden«, antwortete ich höflich. »Ich bin ihre ganze Familie.«
    »Auch wir sind ihre Familie«, protestierte die Große und stellte fest: »Das ganze Viertel ist eine große Familie.«
    Diese beiden Alten sollen Familie sein? dachte ich bei mir.
    Wieder wurde an die Tür geklopft, diesmal leise.
    »Wer ist da?« fragte ich überrascht. Wer konnte denn zur Schiwa kommen, wenn es keine Familie gab.
    »Ich bin’ s, Malka Lifschitz«, antwortete eine schwache Stimme.
    Ich erstarrte.
    Die Tür ging auf.

    Plötzlich, im kalten Licht des Abends, in dem Zimmer, in dem ich meine Kindheit und Jugend verlebt hatte, sah ich die Wohnung vor mir, in der Malka aufgewachsen

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