Gottes Zorn (German Edition)
Kinder schlafen, und den Ton des Fernsehers hat sie bis auf Flüsterlautstärke heruntergestellt, um sie nicht zu wecken. Sie bleibt eine Weile davor stehen und versucht die Untertitel zu lesen, doch es geht viel zu schnell. Die Buchstaben sehen so eigenartig aus, und jedes Mal wollen die Augen auf der falschen Seite beginnen. Sie schaltet den Apparat aus und wirft die Fernbedienung aufs Sofa.
Ich muss schlafen, damit ich morgen zum Schwedischunterricht fit bin, denkt sie.
Ich muss lernen, die Sprache zu verstehen.
Vorsichtig schleicht sie ins Nebenzimmer. Sie hört die gleichmäßigen Atemzüge der Kinder in der Dunkelheit. Widersteht der Versuchung, ihnen übers Haar zu streichen. Zieht lediglich die Bettdecke wieder hoch, die der Junge weggestrampelt hat. Berührt mit den Lippen die Stirn des Mädchens. Ihr Atem riecht süßlich.
Nachdem die Frau sich die Zähne geputzt und das Nachthemd angezogen hat, liegt sie vollkommen still im Bett, starrt an die Decke und horcht.
Jemand schlägt die Wohnungstür unter ihr zu. Im Treppenhaus hört sie Stimmen und Schritte.
Sie schließt die Augen.
Wie immer holen sie die Bilder ein. Die Schusssalven und die Schreie. Menschen, die in Todesangst um ihr Leben rennen. Bombenexplosionen und das herzzerreißende Wimmern der Verletzten. Das Jaulen der Wildhunde. All diese Geräusche, die ihr nicht im Geringsten fehlen.
Die Frau sieht alles vor sich. Die Verstümmelten in ihren Betten im Krankenhaus, in dem sie gearbeitet hat. Männer, Frauen und Kinder, die vor Schmerzen schreien, um Linderung flehen. Die zerfetzten Körper der Toten. Sie versucht nicht daran zu denken, was mit Abdi geschehen ist, nachdem er verschwand.
Sogar die Gerüche vernimmt sie in ihrer Einsamkeit, wenn sie die Augen schließt. Den metallischen Geruch nach Blut. Den Gestank des Mülls, der in der Hitze verrottet. Die Benzindämpfe, die Abgase und den Brandgeruch.
Alles kommt ihr so real vor, dass es in ihren Nasenlöchern kitzelt.
Sie schnuppert in die Dunkelheit hinein.
Öffnet schließlich die Augen, doch alles ist dunkel, und sie sieht nichts.
Dann hört sie plötzlich schabende Geräusche vom Hausflur her. Murmelnde Stimmen und jemanden, der auflacht. Einen Knall im Briefschlitz.
Da ist jemand!
Ihr Herz hämmert gegen das Brustbein.
Sind sie etwa in der Wohnung?
Die Kinder!
Sie wirft die Bettdecke zur Seite und stürzt aus dem Bett. Als sie in den Flur kommt, schlagen bereits hohe Flammen an der Wohnungstür hinauf. Eine schwarze Rauchsäule steigt in Richtung Decke auf. Der Holzrahmen hat bereits Feuer gefangen. Es stinkt nach Benzin.
Zuerst steht sie wie versteinert da. Doch dann schreit sie laut und schrill, bis die Luft aus ihren Lungen entwichen ist und sie zu husten beginnt.
Wasser!, ist ihr erster Gedanke.
Sie stürzt in die Küche, packt den Abfalleimer, wirft den Müllbeutel zur Seite und dreht den Wasserhahn voll auf. Das Wasser im Eimer schwappt auf dem Weg zurück über, und als sie es übers Feuer kippt, beginnt es zu zischen und noch stärker zu rauchen.
Dreimal läuft sie zwischen Küche und Flur hin und her, dann schiebt sie den Sessel im Wohnzimmer beiseite und zerrt den Orientteppich, den sie auf dem Flohmarkt gekauft hat, in den Flur, um die letzten Flammen zu ersticken.
Danach sinkt sie ermattet auf den eingesauten Fußboden.
Um sie herum riecht es verbrannt.
Sie weint.
Und sie denkt, wie erstaunlich es doch ist, dass die Kinder nicht einmal aufgewacht sind.
Kapitel 16
D ie Kopfschmerzen zwangen Fatima aus einem rastlosen Schlaf. Mit einem Stöhnen rollte sie sich aus dem Hotelbett und stolperte hinaus ins Bad, wo sie den Wasserhahn aufdrehte und sich das Gesicht kühlte. Dann füllte sie ein Zahnputzglas mit Wasser und warf zwei Brausetabletten hinein. Sie setzte sich auf den Toilettendeckel und wartete.
Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte halb sechs an. Es kam ihr vor, als hätte sie sich die ganze Nacht zwischen verschwitzten Laken hin- und hergewälzt. Als es im Glas aufhörte zu zischen, kippte sie den Inhalt hinunter und schlüpfte wieder ins Bett. Ein anonymer Duft nach Seife, rein, aber fremd, erfüllte den Raum. Unten auf der Straße hörte sie, wie ein Auto beschleunigte und in der Ferne verschwand. Der matte Schein der Straßenlaterne vor dem Fenster fiel ins Zimmer. Die Stadt ist noch nicht erwacht, dachte sie. Nur ich. Sie schloss die Augen in einem Versuch, wieder einzuschlafen.
Doch das, was sie im Traum verfolgt hatte, drängte sich
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