Gottes Zorn (German Edition)
wenn die Familie zum Schlittenfahren in die Berge fuhr. Als dann später die Granaten fielen und die Explosionen die Häuser erzittern ließen, träumte sie sich dort hinauf. Wenn man unters Bett kroch, die Augen schloss und sich die Hände gegen die Ohren drückte und ganz fest an etwas anderes dachte, gelang es einem, die Explosionen, das Dröhnen der Maschinengewehre und die Schreie auszublenden.
Man konnte den Schnee förmlich riechen.
Sie ging etwas langsamer. Einen Moment lang war sie noch gefangen in ihrem Tagtraum und nicht in der Lage, sich zu orientieren. Blasse Straßenlaternen wachten über eine öde daliegende Straße, abgesehen von einer kleinen Gesellschaft, die lachend aus der Eckkneipe kam und sich beeilte, in ein wartendes Taxi zu steigen. Es war kalt, kälter, als es jemals in ihrer Heimat gewesen war.
Merkwürdig, an was man manchmal so denkt, ging es ihr durch den Kopf. Dieses Land ist doch nahezu mein ganzes Leben lang meine Heimat gewesen, eigentlich bin ich hier zu Hause.
Doch das Meer, das ist hier immer so grau.
Neben dem Kai lag ein Schlepper, der gegen die Eiskante schabte. Die Möwen, die mit geschlossenen Augen auf der Reling kauerten, sahen aus, als sehnten sie sich von hier fort. Auf dem Dach eines Lagerschuppens leuchtete eine rote Laterne, und weit draußen in der Hafeneinfahrt konnte sie die Lichter einer Fähre erkennen, die sich aus Richtung Bornholm näherte. Über allem funkelten weiße Sterne an einem pechschwarzen Himmel.
Fatima holte tief Luft und spürte, wie sich ihre Luftröhre vor Kälte zusammenzog. Sie schob ihren dicken Schal bis über den Mund hoch und ging weiter in Richtung Yachthafen.
Nach dem Kinofilm spürte sie in ihrem Inneren noch immer eine wohltuende Wehmut. Nur nervig, dass die Frau in der Reihe hinter ihr die ganze Zeitlang mit einer Süßigkeitentüte rascheln musste. Der Film handelte von einem Mädchen, das in einer armseligen leidgeplagten und tief verschneiten Bergregion nach ihrem Vater suchte. Das Leben in den Ozark Mountains schien hart zu sein. Als Fatima noch ein Kind war, dachte sie, dass alle Menschen in den USA reich wären und in großen Schlössern lebten. Man müsste irgendwann mal dort Urlaub machen, dachte sie. Es kann doch nicht sein, dass man fast vierzig ist, ohne jemals einen Fuß in die Stadt New York gesetzt zu haben.
Als ein Auto unmittelbar neben ihr im Schnee vorbeischlich, geriet Fatima ins Rutschen und bemerkte erschrocken, dass sie mitten auf der Straße ging. Sie fluchte im Stillen und schaute den roten Rücklichtern hinterher. Plötzlich hatte sie das vage Gefühl, dass jemand ihr hinterherspionierte. Sie warf einen Blick über die Schulter. Mit zwei großen Schritten gelangte sie über einen Schneewall zurück auf den Gehweg. Alles nur Einbildung, dachte sie und beschleunigte ihren Schritt ein wenig.
An der Haustür angekommen, sah sie, dass alle Fenster dunkel waren. Die Nachbarn waren offenbar schon zu Bett gegangen. Sie tippte den Türcode ein und klopfte sich im Treppenhaus den Schnee ab. Wieder mal typisch, dass das Licht nicht funktionierte.
Sie tastete sich im Dunkeln die Treppe hinauf. Der Schlüssel klemmte im Schloss, oder vielleicht lag es auch an ihren kalten Fingern. Schließlich gelang es ihr, die Wohnungstür zu öffnen und nach dem Lichtschalter zu tasten. Sie drückte ihn, ohne dass etwas geschah. Sofort begann ihr Puls zu rasen. Für einen Augenblick meinte sie einen Schatten zu erahnen, der im Flur schwebte.
«Hallo, ist da jemand?»
Sie hielt die Luft an und horchte, doch alles war still.
Irritiert von ihrer eigenen Unruhe, ging sie in die Küche. Aber auch dort funktionierte das Licht nicht. Sie sah, dass die Kontrolllampen am Kühl- und Gefrierschrank ebenfalls erloschen waren. Sie schaltete eine Herdplatte ein, ohne dass etwas passierte. Ließ sich dann schwer auf einen Stuhl im Flur fallen und überlegte, ob sie Kerzen zu Hause hatte.
Vielleicht sollte sie hinunterlaufen und bei Lena klopfen? Ihr Salon öffnete schließlich erst um zehn Uhr morgens, weswegen die Freundin nie früh zu Bett ging. Doch Fatima zögerte. Dann müsste sie noch einmal ins Treppenhaus zurück. Sie horchte nach Geräuschen und meinte Schritte zu hören, die plötzlich innehielten.
Fatima stand auf und schloss die Wohnungstür ab.
Merkwürdig, sonst machte ihr die Dunkelheit nie etwas aus.
Langsam ging sie zum Fenster und schob die Gardine zur Seite. Der Mond starrte sie kalt an, wie ein alter Mann mit einem
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