Gotteszahl
Frühstück will ich nach Os. Ich hoffe, ich erwische Lukas, ehe er zur Arbeit geht. Da liegt unsere Hoffnung – dass Lukas uns am Ende doch endlich hilft.«
Er gähnte ausgiebig und tippte sich mit zwei schlaffen Fingern an die Stirn.
Sigmund sah sich in der Tür noch einmal um. »Ich schlafe etwas länger«, sagte er. »Fahr gegen neun direkt zur Wache. Ich werde Bescheid sagen, dass du noch mal mit Lukas redest. Die Leute hier in Bergen finden es offenbar in Ordnung, dass du auf eigene Faust durch die Gegend stromerst. In Oslo würde das nie im Leben gehen!«
»Schön. Gute Nacht.«
Der Kollege murmelte etwas Unverständliches, dann fiel die Tür mit gedämpftem Knall hinter ihm zu.
Als Yngvar sich auszog, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, Inger Johanne anzurufen. Er fluchte leise und schaute auf die Armbanduhr, auch wenn er erst zwei Minuten zuvor festgestellt hatte, dass es sechs Minuten nach halb zwölf war.
Es war zu spät, um anzurufen, und er ging ins Bett.
Ohne schlafen zu können.
Was Inger Johanne nicht schlafen ließ, war die Zahl 19. Sie hatte den ganzen Abend über Rashad Khalifa und dessen Theorien über den göttlichen Ursprung des Koran gelesen. Egal woran sie zu denken versuchte, um einzuschlafen, immer tauchte die verdammte Zahl 19 auf.
Nach einer Stunde gab sie auf. Sie könnte sich im Fernsehen irgendeine öde Sendung suchen. Einen Krimi oder eine Sitcom, die sie müde machen würde. Es war schon nach eins, aber TV3 sendete um diese Zeit doch immer irgendwelchen Scheiß.
Auf dem Sofa herrschte das absolute Chaos.
Überall Papiere, allesamt aus dem Netz ausgedruckt.
Inger Johanne drohte ihren Studierenden mit Enthauptung oder einem anderen grausamen Tod, wenn sie jemals Wikipedia in einer wissenschaftlichen Arbeit als Quelle anführten. Sie selbst rief diese Online-Enzyklopädie jedoch immer wieder auf. Der Unterschied zwischen ihr und den Studierenden war, dass sie selbst kritisch vorging, glaubte sie. An diesem Abend war ihr das schwergefallen. Die Geschichte über Rashad Khalifa war eine faszinierende Lektüre, und die Links hatten sie immer tiefer in diesen seltsamen Bericht geführt.
Er war einfach zu spannend.
Sie wanderte in die Küche und beschloss, sich an das Hausmittel ihrer Mutter zu halten. Milch in einen Kochtopf, zwei große Esslöffel Honig. Unmittelbar vor dem Kochen noch einen Schuss Cognac dazu. Als Kind hatte sie von dieser letzten Zutat keine Ahnung gehabt. Als Erwachsene hatte sie ihrer Mutter vorgehalten, dass es doch verantwortlungslos sei, Kindern zum Einschlafen Alkohol zu geben. Die Mutter hatte alles mit der Behauptung abgetan, der Alkohol verdampfe und müsse außerdem als Medizin gelten. Und sie hatten dieses Gebräu ja nur sehr selten bekommen, hatte sie hinzugefügt, als Inger Johanne noch immer nicht überzeugt gewesen war.
Sie lächelte bei dieser Erinnerung und schüttelte den Kopf.
Füllte einen großen Becher.
Der wurde fast zu heiß, um ihn in der Hand zu halten.
Sie stellte ihn auf den Couchtisch und schaufelte auf dem Sofa Platz frei. Schaltete den Fernseher ein und zappte sich zu TV3 durch. Es war schwer zu erfassen, wovon der Film eigentlich handelte. Die Bilder waren dunkel und zeigten Bäume, die von einem entsetzlichen Sturm umgeworfen wurden. Als dann plötzlich ein Vampir zwischen den Baumstämmen auftauchte, schaltete sie den Fernseher wieder aus.
Ohne es eigentlich zu wollen, griff sie nach einem Stapel von Papieren, die neben dem Becher lagen. Auch wenn es idiotisch war, wenn sie an den morgigen Tag dachte, setzte sie sich bequemer hin, um mehr über Rashad Khalifa und seine seltsamen Theorien über die Zahl 19 zu lesen.
Der Ägypter war als junger Erwachsener in die USA gegangen und hatte dort Biochemie studiert. Da ihm die englische Übersetzung des Korans nicht gefiel, hatte er das gesamte Werk auf eigene Faust neu übersetzt. Bei dieser Arbeit, gegen Ende der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts, hatte er es sich in den Kopf gesetzt, das Buch zu analysieren. Rein mathematisch. Er wollte beweisen, dass der Koran ein göttlicher Text sei. Einige Jahre und viel Arbeit später legte er seine Theorie über die Zahl 19 als durchgehender göttlicher Schlüssel zu Allahs Worten vor.
Inger Johanne hatte keine Möglichkeiten, den kühnen Gedankensprüngen dieses seltsamen Muslims zu folgen. Einiges kam ihr vor wie fortschrittliche Mathematik, während der Mann an anderen Stellen überaus banale Dinge vortrug. Zum Beispiel,
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