Gotteszahl
Eiche, die an der Fensterscheibe kratzte, wurde von einer Straßenlaterne beleuchtet und bildete über seinem Bett die schönsten Muster. Wenn er nicht mehr schlafen konnte, schlich er oft aus seinem Zimmer und die steile Treppe zum Dachboden hinauf. Im Halbdunkel, zwischen Seekisten und alten Möbeln, mottenzerfressenen Kleidern und Spielzeug, von dem niemand mehr wusste, wem es ursprünglich gehört hatte, konnte er viele Stunden sitzen und sich in Träumen verlieren.
Lukas Lysgaard fuhr von Os durch feuchte winterliche Dunkelheit in ein schlaftrunkenes Bergen weiter und hatte endlich einen Entschluss gefasst.
Wenn er an seine Kindheit zurückdachte, konnte er sich kaum beklagen.
Er war ein geliebtes Kind, und er war sich dessen bewusst. Der Glaube seiner Eltern hatte ihm damals gutgetan. Er hatte ihren Gott übernommen, so wie andere Kinder die Ideale ihrer Eltern übernehmen, bis sie groß genug sind, um dagegen aufzubegehren. Sein Aufruhr war im Stillen vor sich gegangen. Er hatte den Herrn zuerst als Geborgenheit schenkende Vaterfigur gesehen – verzeihend, beschützend und allgegenwärtig –, hatte mit zwölf Jahren dann aber zu zweifeln begonnen.
Im Haus am Nubbebakken war kein Raum für Zweifel gewesen.
Der Gottesglaube der Mutter war absolut. Ihre Milde anderen Menschen gegenüber, unabhängig von Glaube und Überzeugung, ihre Großzügigkeit und Nachsicht noch für die schwächsten Gestrauchelten, waren dennoch fest verwurzelt in ihrer Gewissheit über den Erlöser, Gottes Sohn. Als Lukas in die Teenagerjahre kam, ging ihm auf, dass seine Mutter im Grunde nicht glaubte. Sie wusste. Eva Karin Lysgaard war sich ihrer Sache sicher, und niemals wagte er, sie mit seiner eigenen Wankelmütigkeit zu konfrontieren. Gott antwortete nicht mehr auf seine Gebete. Das Christentum war ihm zusehends verschlossener, und er fing an, anderswo nach Antworten auf die Rätsel des Lebens zu suchen.
Nach dem Militärdienst studierte er Physik und verwarf seine Religion. Das jedoch noch immer im Verborgenen. Natürlich hatte er kirchlich geheiratet. Alle Kinder waren getauft. Jetzt freute er sich darüber, seine Mutter war so glücklich gewesen, wenn sie ein Enkelkind vor der Gemeinde in die Höhe heben konnte, nachdem es von ihr das Sakrament der Taufe erhalten hatte.
Etwas bei ihnen zu Hause war immer anders gewesen, dachte er, als er sich dem Haus seines Vaters näherte.
Als kleines Kind war ihm das nie aufgefallen. Seit dem Tod der Mutter hatte er versucht, sich zu erinnern, wann es sich eingestellt hatte, dieses verstohlene Gefühl, dass seine Mutter etwas verbarg. Vielleicht hatte es sich schrittweise eingestellt, im selben Tempo, in dem sein Glaube geschwunden war. Auch wenn sie als Mutter immer zugegen gewesen war, immer psychisch und oftmals physisch, war ihm, als er älter wurde, zusehends klarer geworden, dass er sie mit jemandem teilte. Es war wie ein Schatten, der über seinem Zuhause hing. Etwas fehlte.
Er hatte eine Schwester, eine andere Erklärung war nicht möglich.
Es war schwer zu verstehen, wie und warum, aber auf irgendeine Weise musste es damit zu tun haben, dass seine Mutter mit sechzehn Jahren bekehrt worden war. Vielleicht war sie damals schwanger gewesen. Jesus hatte vielleicht zu ihr gesprochen, als sie an eine Abtreibung dachte. Das konnte das eine Thema erklären, bei dem sie starrköpfig und manchmal fast fanatisch gewesen war: Es sei keinem Menschen gegeben, von Gott geschaffenes Leben zu beenden.
Rasch rechnete er aus, dass seine Mutter 1962 sechzehn Jahre alt gewesen war.
Es war nicht leicht, 1962 schwanger und unverheiratet zu sein, schon gar nicht für ein ganz junges Mädchen.
Die Frau auf dem Bild sah ihm so ähnlich: Er konnte sich daran erinnern, auch wenn er dem Bild nicht übermäßig viel Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Er hatte einen Widerwillen empfunden, fast eine Abscheu gegen die namenlose Frau mit den hübschen, ein wenig schief stehenden Zähnen.
Lukas wollte das Bild zurückbekommen. Und dann würde er seine Schwester finden.
Am Nubbebakken parkte er ein Stück vom Haus seines Vaters entfernt.
Jetzt stand er vor der Tür und versuchte, nicht mit dem Schlüsselbund zu klirren.
Im Haus blieb er dann stehen und lauschte.
Das Haus seiner Eltern war niemals ganz still gewesen. Holz knackte. Zweige schabten im Wind über die Fenster, die Standuhr tickte so laut, dass man sie auch im ersten Stock hören konnte. Die Rohre seufzten in regelmäßigen Abständen, Lukas’
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