Gotteszahl
er nicht lösen konnte, ehe die Sache ernst wurde. In der vergangenen Woche hatte er sich um eine Art Nachbereitung gekümmert. Die Polizei in Bergen übernahm die Ermittlungen und koordinierte die Ergebnisse. Die Kollegen operierten dabei selbstständig, während Sigmund und Yngvar versuchten, sich in größerem Rahmen einen Überblick über die einlaufenden Informationen zu verschaffen.
»Ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht«, sagte Yngvar plötzlich. »Das Gegenteil von dem Fehler, den wir sonst oft begehen.«
»Was meinst du?«
»Wir haben die Sache zu breit angelegt.«
»Regel Nummer 1, Yngvar. Immer alle Möglichkeiten offenhalten.«
»Weiß ich«, sagte Yngvar spitz. »Aber hör jetzt her …«
Er nahm einen Notizblock und einen Kugelschreiber vom Nachttisch. »Was die Theorie angeht, dass es irgendein Irrer war, also eine von diesen Zeitbomben, von der alle reden …«
»Ein Asylbewerber«, steuerte Sigmund bei und wollte das Thema schon vertiefen, als ihn ein mörderischer Blick von Yngvar die Handflächen zu einer Geste der Versöhnung heben ließ.
»Dann hätten wir ihn schon längst gefunden«, sagte Yngvar. »Diese Art Mord wird von einer Person mit einem psychotischen Durchbruch ausgeführt, und solche Leute irren nach der Tat meist noch durch die Straßen, blutverschmiert und gehetzt von inneren Dämonen, bis wir sie dann einige Stunden später aufgreifen. Aber jetzt sind fast drei Wochen vergangen, und wir haben nicht die geringste Spur eines maniac gefunden. Niemand ist aus einer psychiatrischen Einrichtung verschwunden, in den Asylbewerberheimen gibt es nichts, was Verdacht erregen könnte, es ist ganz einfach …«
Er schlug mit dem Kugelschreiber auf den Block. »… ausgeschlossen, dass wir es mit so einem Mörder zu tun haben.«
»Das denkt die Bergenser Polizei ja eigentlich auch.«
»Ja. Aber sie hält sich noch immer alle Türen offen.«
Sigmund nickte.
»Diese Tür sollte sie einfach zuschlagen«, sagte Yngvar. »Und eine ganze Menge anderer Türen gleich mit, die nur für Durchzug und Chaos sorgen. Diese Hassbriefe zum Beispiel, hast du je erlebt, dass bei denen, die solche Briefe schreiben, ein Mörder gefunden wurde?«
»Tja«, sagte Sigmund zögernd. »Bei Anna Lindh war es doch immerhin ein Mörder, der unzufrieden war mit …«
»Die schwedische Außenministerin wurde von einem durch und durch Verrückten ermordet«, fiel Yngvar ihm ins Wort. »Wenn nicht nach juristischer Definition, dann nach jeder anderen. Ein misfit mit psychiatrischer Vorgeschichte, der plötzlich ein Hassobjekt entdeckt hatte. Er wurde vierzehn Tage nach der Tat festgenommen, und er hatte so viele Spuren hinterlassen, dass …«
»… dass du und ich ihn in weniger als vierundzwanzig Stunden gefasst hätten«, sagte Sigmund frech.
Yngvar grinste. »Die hatten wirklich Pech, die Schweden, bei einigen sehr, sehr wichtigen Fällen …«
Aus dem Nachbarzimmer hörten sie eine Dusche rauschen, dann wurde eine Toilettenspülung betätigt.
»Ich halte diesen Stapel ebenfalls für eine Sackgasse«, murmelte Yngvar. »Genau wie diese Abtreibungsspur, um die die Zeitungen jetzt so ein Geschrei machen. Wenn jemand aus solchen Gründen einen Mord begeht, dann doch einer von den Abtreibungsgegnern. Jedenfalls in den USA. Nicht die, die sich für Abtreibungsfreiheit engagieren. Das ist doch an den Haaren herbeigezogen.«
»Aber was glaubst du denn nun? Jetzt bist du fast alle Möglichkeiten durchgegangen. Was zum Teufel denkst du also?«
»Wohin wollte sie?«, fragte Yngvar und starrte ins Leere. »Wir müssen feststellen, wohin sie unterwegs war, als sie ermordet wurde.«
Sigmund leerte sein Glas und starrte es einen Moment an, dann öffnete er die Plastikflasche Famous Grouse und schenkte sich noch einen soliden Schnaps ein.
»Sei jetzt vorsichtig«, sagte Yngvar. »Wir müssen früh raus.«
Sigmund ignorierte die Warnung. »Das Problem ist natürlich, dass wir die Frau nicht fragen können«, sagte er. »Und der Ehemann will weiterhin nichts über das Ziel ihres Spaziergangs verraten. Unsere Kollegen hier in der Stadt haben ihm gesagt, dass er zur Aussage verpflichtet ist, sie haben ihm sogar mit einer offiziellen Vernehmung gedroht. Mit allen Konsequenzen, die das haben kann …«
»Sie werden Erik Lysgaard nie im Leben vor den Kadi zerren. Das hätte doch keinen Sinn. Er hat genug gelitten und leidet noch immer. Wir müssen eine andere Möglichkeit finden.«
»Welche
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