Gotteszahl
Autotür wurde zugeschlagen.
Das Tor kreischte und Lukas hörte deutlich Schritte, die sich der Haustür seines Vaters näherten.
Jemand klingelte. Bisher hatte er nicht einmal gewagt, seinen Blick wandern zu lassen. Endlich schaute er nach unten. Von hier oben aus konnte er den kleinen Windfang mit der Steintreppe und dem Bodengitter, an dem man die Schuhe abtreten konnte, gerade noch sehen.
Er erkannte den Besucher sofort.
Endlich wurde die Tür geöffnet.
Lukas hielt den Atem an. Wenn Yngvar Stubø aufschaute, würde er ihn sofort sehen.
Die Stimmen waren deutlich.
»Guten Morgen«, sagte der Polizist. »Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich suche Lukas. Wollte nur kurz mit ihm sprechen. Ist er hier?«
Die Stimme des Vaters war wie üblich tonlos und gleichgültig. »Nein.«
»Nein? Ich habe mit seiner Frau gesprochen, und …«
Stubø trat einen Schritt zurück. Lukas schloss die Augen.
»Tut mir leid«, sagte der kräftige Kerl dort unten. »Ich hätte natürlich auch einfach anrufen können. Geht es Ihnen gut? Können wir irgendetwas …«
»Es geht gut«, fiel der Vater ihm ins Wort, dann wurde die Tür zugeschlagen.
Lukas war bereits triefnass. Er hatte seinen Mantel im Wagen gelassen, und das eiskalte Regenwasser traf seinen Nacken und lief über seinen Rücken. Instinktiv beugte er sich vor, um das Foto zu schützen. Er öffnete die Augen wieder.
Yngvar Stubø stand fünf Meter von der Straße entfernt und legte den Kopf schräg. Als ihre Blicke sich begegneten, krümmte der Polizist den Zeigefinger der rechten Hand mehrmals. Er deutete ein Lächeln an und schüttelte kurz den Kopf, dann zeigte er auf das Tor.
Lukas schluckte und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt.
Er würde drei Minuten brauchen, um vom Dach nach unten zu gelangen. In dieser Zeit würde er sich eine gute Erklärung aus den Fingern saugen müssen. Außerdem musste er vermeiden, dass sein Vater ihn entdeckte. Es war schlimm genug, Yngvar Stubø eine Erklärung liefern zu müssen.
Als er unten ankam, nachdem er von einem fast zwei Meter hohen dicken Ast gesprungen war, hatte er noch immer keine Idee, was er sagen könnte.
Die Wahrheit, vielleicht, dachte er für einen Moment. Er stapfte um das Haus herum, um sich dem vor dem Tor wartenden Polizisten zu stellen.
Inger Johanne hatte längst eingesehen, dass die Wahrheit immer das erste Opfer jedes Krieges ist. Trotzdem fiel es ihr schwer zu akzeptieren, dass die Wirklichkeit dermaßen verzerrt wurde, wie in dem Artikel, den sie zu lesen versuchte, während Ragnhild ihren Teddy fütterte.
»Guck«, sagte die Tochter entzückt und zeigte auf die verklebte Teddyschnauze. »Teddy isst ja so gern Brei!«
»Tu das nicht«, murmelte Inger Johanne. »Iss deinen Brei selbst auf.«
Sie trank einen Schluck Kaffee. Sie fühlte sich von dem Schlafmittel noch immer schwer und benommen, und sie hatte wenig Zeit. Trotzdem konnte sie sich nicht von der Zeitung losreißen.
»Was liest du da, Mama?«
Inger Johanne schaute nicht einmal auf. Sie wusste nicht, wie sie einer Fünfjährigen den Krieg im Gazastreifen erklären sollte.
»Ich lese über böse Menschen«, sagte sie zerstreut.
»Böse Menschen kommen ins Gefängnis«, sagte Ragnhild zufrieden. »Papa fängt sie und steckt sie ins Kaschott.«
»Ins Kaschott?«
Inger Johanne schaute ihre Tochter über den Zeitungsrand hinweg an. »Woher hast du denn dieses Wort?«
»Kaschott, Arrest, Kerker, Knast. Das bedeutet alles dasselbe. Und dann gibt’s noch etwas, was Umbuchungskelle heißt.«
»Untersuchungszelle«, korrigierte Inger Johanne. »Hast du das alles von Kristiane gelernt?«
»Mm«, sagte Ragnhild und leckte die Teddyschnauze ab. »Warum steht da was über die bösen Menschen?«
»Es ist ein Interview«, sagte Inger Johanne. »Mit einem Mann namens …«
Sie sah das Bild von Ehud Olmert an. Rasch blätterte sie weiter. »Dafür haben wir keine Zeit«, sagte sie und lächelte. »Kannst du nicht einfach anfangen, dir die Zähne zu putzen? Dann komm ich und helf dir beim Anziehen.«
Die Tochter klemmte sich den Teddy unter den Arm und verschwand im Badezimmer. Inger Johanne wollte die Zeitung zusammenfalten, als ihr Blick auf eine Notiz auf der ersten Seite fiel, die sie widerwillig auf Seite fünf weiterblättern ließ.
»Der Fall Marianne noch immer ein Rätsel – bisher über dreihundert Zeugen befragt.«
Wenn sie so früh am Morgen eins nicht brauchen konnte, dann war das noch so ein entsetzlicher Mord.
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