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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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erreichen.
    Zuerst musste er das Bild seiner Schwester finden.
    Er wartete zehn Minuten, um sicher sein zu können, dass sein Vater schlief.
    Dann schlich er leise durch den Raum.
    Es war alles so einfach, dass er es kaum glauben konnte. Unter einer mit alten Zeitungen gefüllten Bananenkiste, auf einem Fußschemel, an den er sich aus der Zeit in Stavanger zu erinnern glaubte, lag das Foto. Der Rahmen funkelte, als Licht darauf fiel. Erst jetzt sah er, dass der Rahmen aus Silber war. Er fuhr zusammen, als er den Lichtstrahl auf das lächelnde Gesicht richtete.
    Die Frau mochte um die zwanzig sein, auch wenn das schwer zu sagen war. Sie trug eine Bluse mit einem kleinen Kragen, auf den Blumen gestickt waren. Darüber trug sie eine dunklere Jacke, offenbar eine dünne Strickjacke. Einfarbig.
    Nicht sonderlich modern, dachte er.
    Rasch zog er das Bild aus dem Rahmen. Er hoffte auf den Namen des Fotografen oder eine andere Beschriftung, die ihm auf der Jagd nach der Schwester weiterhelfen könnte.
    Nichts.
    Das Bild war ganz und gar anonym. Er legte den Rahmen zur Seite und ging mit dem Foto zu seinem alten Sessel, der an der nach Süden gerichteten Wand stand. Er setzte sich und hielt die Taschenlampe so, dass das Bild direkt angestrahlt wurde.
    Wenn seine Mutter 1962 schwanger gewesen war, musste diese Frau heute sechsundvierzig sein, vielleicht siebenundvierzig, er wusste nicht genau, in welchem Jahr seiner Mutter die angebliche Offenbarung zuteilgeworden war.
    Das Bild musste also vor etwa fünfundzwanzig Jahren aufgenommen worden sein.
    1984.
    Er selbst war damals fünf gewesen. Er wusste wenig über die Mode aus der Zeit. Höchstens, dass der große Bruder seines besten Freundes pastellfarbene Mohairpullover getragen hatte, die er sich in die Hose stopfte, und dazu fabelhafte künstliche Locken.
    Seine Fingerspitzen fuhren über das Gesicht der Frau.
    Sie hatte keine künstlichen Locken, und wenn es auch schwer war, von einem Schwarz-weiß-Bild auf die Farben zu schließen, hielt er die Jacke für rot.
    Lukas hatte nie Geschwister vermisst. Er war mit dem Gefühl aufgewachsen, einzigartig zu sein, das einzige Kind, mit dem seine Eltern gesegnet gewesen waren. Er hatte leicht Freunde gefunden, und das Haus hatte immer für seine Freunde offen gestanden. Seine Kumpels hatten ihn beneidet, Lukas hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Eltern besessen und hatte oft schon das Neueste vom Neuen gehabt, ehe andere Eltern überhaupt durchrechnen konnten, ob das finanzierbar wäre.
    Die Frau auf dem Bild sprach zu ihm, das spürte er.
    Etwas verband sie: eine gemeinsame Liebe.
    Er schob das Foto unter sein Hemd, hinter den Hosenbund. Den Rahmen legte er an die Stelle zurück, wo er ihn gefunden hatte. Er ging zur Dachluke und hoffte, dass sie sich nach all den Jahren noch öffnen lassen würde.
    Es war kein Problem.
    Kalte, feuchte Luft schlug ihm entgegen, und für einen Moment schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, fragte er sich, ob er sich wohl noch durch die enge Öffnung zwängen könnte. Er hielt Ausschau nach etwas, worauf er stehen könnte, und sein Blick fiel auf einen Tritthocker, an den er sich aus der Küche in Stavanger erinnerte. Er hob ihn vorsichtig von der Wand, klappte ihn auseinander und stellte ihn unter die Dachluke. Mit Mühe und Not konnte er die Schultern durch die Öffnung pressen. Aber es war ihm klar, dass es Wahnsinn wäre, in der Dunkelheit Dach und Eiche bezwingen zu wollen. Der trübe Lichtschein von der Straßenlaterne reichte nicht. Da er beide Hände brauchen würde, um über das Dach zu kriechen und den Baum zu erreichen, konnte er die Taschenlampe nicht einsetzen.
    Lukas Lysgaard war ein neunundzwanzig Jahre alter Vater von drei Kindern und kein Knabe ohne Furcht und Verstand mehr. Vorsichtig zog er sich durch die Luke zurück und stand dann wieder auf dem Boden, ohne zu viel Krach gemacht zu haben.
    Er setzte sich wieder in den Sessel. Zog sein Telefon hervor und gab eine SMS an Astrid ein.
    Übernachte bei Vater. Melde mich morgen. Lukas.
    Dann schaltete er das Telefon auf stumm.
    Er wollte auf das Tageslicht warten, auch wenn es um diese Jahreszeit erst spät kam. Noch einmal zog er das Bild von der Frau hervor, die er für seine Schwester hielt, und betrachtete es lange im blauweißen Licht der Taschenlampe.
    Vielleicht hatte er Neffen und Nichten.
    Auf jeden Fall hatte er eine Schwester.
    Beim bloßen Gedanken daran wurde ihm schwindlig, und plötzlich überkam ihn die

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