Gotteszahl
Abend in der Garage bist. Bei diesem Wetter. Da musstest du dir doch irgendwas holen.«
Er sah sie nicht einmal an, als er weiter ins Wohnzimmer ging. Es war ihm nur recht, dass sie der abendlichen Arbeit in der kalten Garage die Schuld zuschrieb. Er hatte wenig Lust, ihr von der lächerlichen Kletterpartie im eiskalten Januarregen auf dem Dach seines Vaters zu erzählen. Noch geringer war sein Bedürfnis, ihr zu berichten, dass er über eine Viertelstunde in einem kaum geheizten Auto gesessen hatte, um sich, triefnass und durchgefroren, von Yngvar Stubø die Leviten lesen zu lassen.
»Haben wir Paracet?«, fragte er jammernd. »Und Cola? Haben wir Cola?«
»Beides. Ich hab gestern Paracet gekauft, nachdem ich …«
Sie stockte.
»Cola liegt im Kühlschrank«, sagte sie. »Paracet ist im Medizinschränkchen im Badezimmer. Soll ich dir eine Wärmflasche machen?«
»Ja, bitte. Ich fühle mich total …«
Er brauchte seinen Zustand nicht näher zu beschreiben. Seine Augen waren gerötet und er war noch blasser als sonst um diese Jahreszeit. Die Nasenflügel waren wund, die Lippen schorfig und ausgedörrt. In den Mundwinkeln saß ein weißer Belag.
»Du bist wirklich nicht gut im Kranksein, Lukas.«
Sie lächelte vorsichtig.
Sein Rücken strahlte Trotz aus, als er zur Treppe zum ersten Stock schlurfte.
Sie ging hinter ihm her ins Badezimmer. Während er sich am Schloss des Medizinschranks zu schaffen machte, ließ sie das Wasser laufen, bis es kochend heiß war, dann füllte sie die Wärmflasche.
»Ehrlich gesagt«, sagte sie. »Du liegst nicht im Sterben, Lukas. Reiß dich also zusammen.«
Ohne zu antworten, drückte er drei Pillen aus der Folie, steckte sie in den Mund und spülte sie mit einer halben Flasche Cola hinunter. Sein Gesicht verzog sich beim Schlucken vor Schmerz. Er warf im Weitergehen seine Kleider auf den Boden. Sie bildeten eine Spur auf dem Gang ins Schlafzimmer. Dort ließ er sich ins Bett fallen, als hätte er die letzten Kräfte verbraucht, zog die Decke ans Kinn und drehte sich auf die Seite.
»Hier ist die Wärmflasche«, sagte Astrid. »Wo soll ich sie hinlegen?«
Er gab keine Antwort.
»Lukas«, sagte sie zögernd. »Ich muss etwas mit dir besprechen.«
Am Vortag hatte die Frage nach der Frau auf dem Bild in der verschlossenen Schublade in ihr gebrannt. Mehrere Male hätte sie fast gefragt. Aber immer war etwas dazwischengekommen. Die Kinder. Das Essen. Hausaufgaben. Die ewige Garage. Als sie endlich zusammensaßen, war es nach halb elf, und Lukas wollte um jeden Preis einen Fernsehbericht über ein Tattoostudio in L. A. sehen. Sie war zu Bett gegangen und hatte schon geschlafen, als er nachgekommen war.
Heute hatte sie sich überlegt, dass sie ihn doch hätten fragen sollen. Aber sie hatte sich geschämt, seine Schublade geöffnet zu haben. Dabei war nun wirklich nichts Unrechtes dabei, ein Medikament zu suchen, das eingeschlossen war.
»Mir geht es so schlecht«, wurde unter der Decke gemurmelt.
»Ich will dich nur etwas fragen«, sagte sie ein wenig entschiedener.
»Oaaa … ich verliere die Stimme. Astrid. Kann ich heiße Milch mit Honig kriegen? Bitte?«
Sie blieb eine Weile stehen und versuchte zu begreifen, was sie wirklich empfand.
Resignation, dachte sie. Irritation.
Unruhe.
»Ja«, sagte sie müde. »Sicher kriegst du heiße Milch mit Honig.«
Leise zog sie die Tür hinter sich zu und ging hinunter in die Küche. Als sie mit der Tasse nach oben kam, war Lukas eingeschlafen.
»Hier«, sagte Silje Sørensen und reichte Inger Johanne eine Tasse Kakao. »Dieser ganze Kaffee morgens macht mich verrückt, deshalb hab ich immer so was hier.«
»Danke«, sagte Inger Johanne. »Das riecht gut. Und tausend Dank, dass ich so schnell kommen konnte.«
»Ich bin doch neugierig, wissen Sie.«
Silje Sørensens Lachen passte nicht so ganz zu ihrer zierlichen Gestalt. »Erstens habe ich über Sie gehört und gelesen, zweitens würde ich für alle Platz schaufeln, die von Hanne Wilhelmsen geschickt werden. Wie geht es ihr übrigens?«
Inger Johanne öffnete den Mund zu einer Antwort, riss sich dann aber zusammen.
Hanne wollte nicht, dass über sie gesprochen wurde.
»Sie wissen schon«, sagte sie und zuckte mit den Schultern in der Hoffnung, dass diese inhaltlose Antwort Silje Sørensen dazu bringen würde, das Thema zu wechseln. »Also«, setzte sie an und räusperte sich. »Ich weiß nicht so ganz, wo ich anfangen soll.«
»Ach?«
»Ich bin Kriminologin und
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