Gotteszahl
ein Gespräch mit Hanne Wilhelmsen einzuleiten, musste die Frage, ob es gut gehe, ganz oben auf der Liste stehen.
»Sicher«, hieß es am anderen Ende, und Inger Johanne bekam den Kaffee in den falschen Hals.
»Was?«, hustete sie.
»Es geht mir durchaus gut. Danke übrigens für das Weihnachtsgeschenk für Ida. Das hat ihr gefallen. Und du? Wie geht’s dir?«
Jemand muss Hanne Wilhelmsen zu Weihnachten einen Schnellkurs in Höflichkeit geschenkt haben, dachte Inger Johanne.
»Eigentlich okay. Aber du weißt schon. Viel zu tun. Yngvar ist im Moment fast die ganze Woche über in Bergen, deshalb hab ich allein mit den Kindern viel am Hals.«
Hanne war in ihrem Kurs offenbar nicht sehr weit gekommen, denn jetzt blieb es am anderen Ende still.
»Ich will es kurz machen«, sagte Inger Johanne rasch. »Ich wollte nur fragen, ob du mir bei einer Sache behilflich sein kannst.«
»Wobei denn?«
»Ich brauche … Ich müsste mit einer zuverlässigen Person bei der Osloer Polizei sprechen. Mit einer, die in der Sektion für Gewaltkriminalität und Sexualdelikte arbeitet. Am liebsten mit einer ranghöheren.«
»Mit mir vor sechs Jahren, mit anderen Worten.«
»Das kannst du so sagen, aber ich …«
»Warum fragst du mich? Yngvar muss dir doch helfen können.«
»Ja, aber der ist in Bergen.«
»Das Telefon ist schon erfunden.«
»Trotzdem …«
»Ist irgendwas mit Kristiane?«
Hanne lachte. Sie lacht wirklich, dachte Inger Johanne mit wachsender Verwunderung.
»Im Grunde nicht, aber …«
Doch , dachte sie.
Ich will noch nicht mit Yngvar sprechen. Ich will mir keine kritischen Fragen stellen lassen. Ich will nichts mit allen Widersprüchen und Gegenargumenten zu tun haben. Kristiane muss geschont werden, wenn es möglich ist. Ich will das erst selbst klären.
»Yngvar hält mich so leicht für …«
»Ein wenig hysterisch?«
Wieder dieses ungewohnte Lachen. »Ein wenig zu bereit, zu glauben, dass etwas nicht stimmt«, sagte Hanne jetzt. »Liegt da der Hund begraben?«
»Vielleicht.«
»Silje Sørensen.«
»Was? Wer?«
»Sprich mit Silje Sørensen. Wenn jemand dir helfen kann, dann sie. Jetzt muss ich auflegen. Ich hab zu tun.«
»Zu tun?«
Die Vorstellung, dass Hanne Wilhelmsen in ihrem selbst gewählten inneren Exil in ihrer Luxuswohnung im Westend zu tun haben könnte, war absurd.
»Ich arbeite wieder ein wenig«, erklärte Hanne.
»Arbeite?«
»Du hast eine seltsame Art zu telefonieren, Inger Johanne. Einsilbige Bemerkungen, gefolgt von Fragezeichen. Ja, ich arbeite. Für mich allein.«
»Aber … woran denn?«
»Schau demnächst mal vorbei, dann reden wir darüber. Aber jetzt muss ich aufhören. Ruf Silje Sørensen an. Bis dann.«
Inger Johanne mochte nicht so recht glauben, was sie da gehört hatte.
Ihre Freundschaft zu Hanne Wilhelmsen war durch einen Zufall entstanden. Inger Johanne hatte bei einem ihrer Projekte Hilfe gebraucht und die verschlossene ehemalige Hauptkommissarin aufgesucht. Auf seltsame Weise hatte sie sich willkommen gefühlt. Sie trafen sich nicht oft, aber mit den Jahren hatte sich eine stille, aufmerksame Freundschaft entwickelt, ohne großes Getue und ohne Verpflichtungen.
Inger Johanne hatte Hanne noch nie so erlebt wie jetzt.
Sie war so überrascht gewesen, dass sie nicht einmal gefragt hatte, wer diese Silje Sørensen war. Das ärgerte sie, bis ihr einfiel, dass sie in der Zeitung über sie gelesen hatte. Sie leitete die Ermittlung im Mord an Marianne Kleive.
Besser hätte sie es kaum treffen können.
Vermutlich war es noch zu früh, um sie anzurufen. Yngvar war selten vor halb neun im Büro, und sie nahm an, dass es im Polizeibezirk Oslo ähnlich zuging.
Sie legte beide Hände um die Kaffeetasse, blieb sitzen und wartete, während sie sich fragte, was in aller Welt bei Hanne Wilhelmsen passiert sein mochte.
»Was ist passiert?«, flüsterte Astrid Tomte Lysgaard, als sie die Tür öffnete und Lukas vor ihr stand.
Es war erst elf, und er hätte bei der Arbeit sein müssen. Er sah aus, als ob er soeben von einem weiteren Todesfall erfahren hätte.
»Bin nur so krank«, sagte Lukas und taumelte herein. »Hals. Fieber. Muss ins Bett.«
»Du hast mich erschreckt«, sagte Astrid und griff sich mit der mageren Hand ans Herz, dann streckte sie sie aus, um seine Wange zu streicheln. »Du siehst aus, als ob du ein Gespenst gesehen hättest.«
»Ich bin nur krank«, sagte er ausweichend. »Fühl mich einfach elend.«
»So geht es, wenn du den ganzen
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