Gotteszahl
die Sachen anderer in Ruhe lassen müssen«, sagte er heiser, »keine fremden Briefe öffnen dürfen. Nicht in fremde Nachttischschubladen schauen. Und dann … Und dann kommst du und …«
Die Fäuste schlugen dumpf auf die Bettdecke.
»Lukas«, sagte Astrid ruhig. »Lukas, sieh mich an.«
Als er endlich den Blick hob, fuhr sie zusammen. »Wir müssen miteinander reden«, flüsterte sie. »Du hast Geheimnisse vor mir, Lukas.«
»Ich habe keine andere Wahl.«
»Doch. Wir haben immer eine Wahl. Wer ist die Frau auf dem Bild? Und warum hast du das Bild aus dem Rahmen genommen und in der Schublade eingeschlossen?«
Sie legte die Hand auf seine. Er zog sie nicht weg, öffnete sie aber auch nicht. »Ich glaube, ich habe eine Schwester«, flüsterte er.
Astrid traute ihren Ohren nicht.
»Ich glaube, ich habe vielleicht eine Schwester«, wiederholte er mit kratziger Stimme. »Eine ältere Schwester, die jedenfalls Mutters Kind ist. Vielleicht auch Vaters. Von damals, als sie ganz jung waren.«
»Ich glaube, du bist verrückt geworden«, sagte Astrid sanft.
»Nein. Es ist mein Ernst. Das Bild stand so lange da, und ich habe nie gewusst, wen es zeigt. Einmal habe ich Mutter gefragt …«
Ein Hustenanfall zwang ihn, sich aufzurichten. Astrid ließ seine Hand los, stand aber nicht auf.
»Ich habe Mutter gefragt, wer es ist. Sie hat nur gesagt, es sei eine Freundin, die ich nicht kenne.«
»Dann war das sicher die Wahrheit.«
»Warum hätte Mutter neben ihrem Bett ein Bild von einer Frau haben sollen, wenn es nicht meine Schwester wäre? Die anderen Bilder zeigen mich und Vater.«
»Ich habe deine Mutter zwölf Jahre lang gekannt, Lukas. Eva Karin war der redlichste, reinste und durch und durch ordentlichste Mensch auf Erden. Niemals, niemals hätte sie ein Kind verheimlicht. Nie und nimmer.«
»Sie kann es zur Adoption freigegeben haben. Das wäre doch nicht ehrenrührig gewesen. Im Gegenteil, es hätte Mutters Entschiedenheit erklären können, wenn es um Abtreibung ging und …«
Seine Stimme gab vollständig nach, und er griff sich an den Hals. »Was wollte Stubø wissen?«, flüsterte er.
»Wer auf dem Bild ist.«
»Was hast du geantwortet?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Ich habe gesagt, dass ich es nicht weiß. Und das ist die Wahrheit. Ich weiß es ja nicht. Aber wenn es für die Ermittlung von Bedeutung sein kann, musst du mit Stubø reden.«
»Es kann unmöglich etwas mit dem Fall zu tun haben. Ich will das nicht an die Öffentlichkeit bringen. Das ist das Letzte, was Mutter gewollt hätte!«
»Aber Lukas«, sagte sie leise. »Warum, glaubst du, nimmt Stubø dieses Bild so wichtig? Er meint doch offenbar, dass es von Bedeutung sein kann. Und wir wollen doch, dass dieser Fall aufgeklärt wird, Lukas. Was?«
Er gab keine Antwort. Seine mürrische Miene mit dem gesenkten Blick erinnerte so sehr an ihren ältesten Sohn, dass sie lächeln musste.
»Vater hatte es weggenommen«, murmelte er.
»Wann denn?«
»Wahrscheinlich am Tag nach dem Mord. Nachdem Stubø zum ersten Mal bei uns war. Er hatte sich in Mutters Zimmer verirrt, und einige Tage später ist ihm offenbar aufgefallen, dass das Bild verschwunden war.«
Er zog eine Handvoll Papiertücher aus einer Schachtel auf dem Nachttisch und putzte sich die wunde Nase.
»Woher hast du es?«, fragte sie. »Wenn Erik es weggenommen hatte?«
»Lange Geschichte«, sagte er. »Aber jetzt muss ich schlafen, Astrid. Wirklich. Ich fühle mich total elend.«
Sie blieb sitzen. Es zog so heftig durch die offene Tür, dass die Zeitung auf dem Nachttisch raschelte. Es regnete jetzt wieder und die schweren Tropfen prasselten auf den Balkonboden. Sie strich sanft über die Bettdecke und sagte: »Na gut. Aber wir müssen unbedingt darüber reden.«
Er zog die Decke wieder bis zum Kinn und kehrte ihr den Rücken zu. »Würdest du die Tür zumachen?«
»Ja«, antwortete sie.
Das Holz hatte sich in der ewig langen Regenperiode verzogen, und die Balkontür ließ sich nicht ganz schließen. Sie ließ sie angelehnt und verließ mit Lukas’ schmutziger Hose und seinen Socken unter dem Arm das Zimmer.
Unten klingelte das Telefon.
Fast hoffte sie, es wäre Yngvar Stubø.
»Hast du mit deinem Mann gesprochen … Weiß Yngvar Stubø das alles?«
Silje Sørensen hatte Inger Johanne fast eine Dreiviertelstunde lang zugehört. Ab und zu hatte sie eine Notiz gemacht, und ein einziges Mal hatte sie eine Antwort eingeschoben. Ansonsten hatte sie immer angespannter
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