Gotteszahl
Boden. Ein Auge fehlte, das andere starrte blind zur Decke. Marcus schlich durch das Zimmer, ohne auf einen der vielen Gegenstände zu treten, und hob den Teddy auf. Für einen Moment hielt er ihn an seine Nase. Sog den Geruch von allem ein, was eine Bedeutung hatte.
Lautlos beugte er sich über den Jungen, legte ihm Freddie in den Arm und deckte ihn besser zu. Cusi grunzte, schmatzte ein wenig und schlang plötzlich die Arme um den Bären.
Ein fast unwiderstehlicher Drang, ins Bett zu kriechen, überkam Marcus so plötzlich, dass er aufschluchzte. Er wollte wieder stark sein. Er wollte der Papa sein, der seinen Sohn tröstete, wenn der aus einem Albtraum hochfuhr und ihn brauchte. Er wollte mit Cusi im Arm daliegen und Geschichten aus alten Zeiten und dem Weltraum erzählen. Der Junge sollte sich an ihn schmiegen und lächeln, und seine Haare sollten ihn in der Nase kitzeln. Es sollte nur sie beide auf der ganzen Welt geben, wie vor Rolf, ehe sie drei wurden.
Ehe dieses Schreckliche sich an ihn herangeschlichen hatte.
Langsam ging er rückwärts aus dem Zimmer hinaus.
Er hatte keine Ahnung, was er machen sollte.
Nicht mit dem Leben, nicht mit den Nächten. Nicht mit dieser Nacht. Die Dunkelheit grinste ihn aus den Ecken höhnisch an, und er merkte, wie sein Puls schneller wurde. Rasch ging er auf die Treppe zu. Er wollte ins Arbeitszimmer. Die Tür schließen. Den Fernseher einschalten. Alle Lampen einschalten und so tun, als wäre Tag.
Er ertappte sich, dass er fast die Tür hinter sich zugeknallt hätte, als er endlich dort war. Atemlos schlug er mit der Hand auf die Lichtschalter, aber nichts geschah. Er riss sich zusammen und drückte mit einem Finger auf einen Schalter nach dem anderen. Endlich lag das Arbeitszimmer in Licht gebadet da, und der Fernseher schaltete sich ein. Er war auf NRK programmiert, wo eine Musiksendung lief. Marcus griff nach der Fernbedienung, die auf dem Schreibtisch lag, und zappte sich zu CNN durch. Er ließ sich in den breiten schweren Schreibtischsessel sinken und legte den Kopf in den Nacken. Das Magengeschwür brannte, und ein bitterer Geschmack füllte seinen Hals. Der Schmerz strahlte zum Herzen aus, und er fühlte sich wie gerädert. Sein Gehirn lief im Leerlauf, und er hatte Angst, dass seine Blase bersten könnte, obwohl er vor weniger als einer halben Stunde zuletzt auf der Toilette gewesen war.
Das hier war kein Leben mehr.
Er fuhr hoch und nahm den Schlüssel zu dem schweren Eckschrank, den er mit dem Haus gekauft hatte. Die Bauernmalerei, die er anfangs witzig und ziemlich vulgär gefunden hatte, war ihm inzwischen lieb geworden. Zumal der Schrank aus dem 18. Jahrhundert stammte, in sehr gutem Zustand und ein Vermögen wert war. Jetzt schienen die Ranken aus grotesken fetten Blumen nach ihm zu greifen, als er den uralten Schlüssel ins Schloss schob und ihn umdrehte.
Hinter der Tür gab es fünf kleine Schubladen. Er öffnete die oberste. Dort lagen die Pillen, von denen er Rolf nie erzählt hatte. Es war nicht nötig gewesen. Die Schachtel hier und die im Büro hatte er seit vielen Jahren nicht angerührt. Er schüttete die Pillen in seine Handfläche und ging zum Schreibtischsessel zurück. Dort ließ er sie über die Schreibunterlage aus Kalbsleder rollen.
Marcus wusste nicht, ob Medikamente ihre Wirkung verloren, wenn das Verfallsdatum überschritten war. Wohl kaum. Jedenfalls nicht vollständig. Wenn er sie alle zusammen nähme, würde das vermutlich ausreichen. Er nahm eine und legte sie vorsichtig auf seine Zunge.
Der Geschmack war unverändert. Muffig, ein wenig salzig.
Cusi würde es besser haben, wenn er nicht mehr da wäre.
Rolf würde sich um ihn kümmern.
Rolf war ein besserer Vater als er. Durch seine Handlungen hatte Marcus sich nicht nur eines Verbrechens schuldig gemacht. Er war es nicht mehr wert, Vater zu sein. Sein Leben war, Vater zu sein, und sein Leben als Vater war vorüber.
Die Tränen liefen lautlos, als er eine Pille in den Mund schob.
Und noch eine.
Die leichte Benommenheit veranlasste ihn, sich im Sessel zurücksinken zu lassen und die Augen zu schließen. Er feuchtete einen Zeigefinger mit Spucke an und presste ihn auf die Tischplatte. Eine weitere Pille blieb daran hängen, und er legte sie sich auf die Zungenspitze.
Dass Letzte, was er auf dem Weg ins Bett vor dem Einschlafen tat, war, die Schreibtischschublade zu öffnen und die anderen Pillen mit der Handkante hineinzuschieben.
Er war nicht einmal Manns genug, sich das
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