Gotteszahl
trafen mich wie … Peitschenhiebe!«
Schaum stand ihm vor dem Mund. Yngvar hielt den Atem an. Erik sah wie ein Gnom aus, mager und krumm, und er schnappte nach Luft.
»Wir beschlossen das gemeinsam«, keuchte er. »Wir beschlossen gemeinsam, dass wir heiraten wollten. Wir konnten beide nicht mit der Schande leben, mit der Schande unserer Eltern, mit … Ich hatte Eva Karin gern. Und sie wurde mit der Zeit zu meinem Leben. Zu meiner … Schwester. Sie hat auch mich gern gehabt. Sie hat mich geliebt, das hat sie gesagt, noch an dem Abend, als … Während ich beschlossen hatte, allein zu leben, immer, wollte sie Martine behalten. Das war unsere Abmachung. Martine und Eva Karin blieben zusammen.«
Langsam ging er zurück zum Sessel. Setzte sich. Weinte lautlos, ohne die Hände vors Gesicht zu schlagen. »Das musste sich doch rächen«, sagte er. »Am Ende musste es sich rächen.«
»Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Ich muss die Strafe auf mich nehmen«, flüsterte Erik. »Ich lebe in der Hölle. Die ganze Zeit und jeden Tag. Jede Nacht, jede Sekunde.«
»Ich muss erfahren, wer es gewusst hat, Erik.«
»Hier.«
Eriks ausgestreckte Hand hielt ein Buch mit abgegriffenem Ledereinband, fleckig und ohne Titel. Es hatte auf dem Tisch gelegen, als Yngvar hereingekommen war.
Er zögerte, griff aber danach, als Erik es verlangte. »Nehmen Sie. Nehmen Sie schon. Das ist mein Tagebuch. Lesen Sie die letzten zwanzig Seiten, dann werden Sie begreifen. Da finden Sie, was Sie wissen wollen. Lesen Sie. Lesen Sie gleich alles. Versuchen Sie, zu verstehen.«
»Aber ich kann nicht, ich kann doch nicht …«
»Und jetzt gehen Sie. Nehmen Sie das Buch und gehen Sie.«
Yngvar stand einfach nur da, mit dem Buch in der Hand, dem Buch mit Erik Lysgaards Gedanken. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, und er hatte noch keine Ordnung in das Chaos gebracht, in das der Ausbruch des trauernden Witwers ihn gestürzt hatte. Nur eins war ihm klar: Niemand auf der ganzen Welt konnte für Erik Lysgaard etwas tun.
Yngvar klemmte sich Eriks Tagebuch unter den Arm und schlich zum allerletzten Mal aus dem Haus am Nubbebakken.
Rolf schlich so vorsichtig er nur konnte durch den Gang. Vielleicht war Marcus wieder eingeschlafen, es war so still im Schlafzimmer. Bei den vielen schlaflosen Nächten, die der Mann hinter sich hatte, wäre es ja nur wünschenswert, wenn er schlafen könnte. Rolf legte die Hand auf die Klinke und drückte sie langsam nach unten. Zu spät fiel ihm ein, dass die Tür quietschte, und er zuckte zusammen, als die Tür sich mit scharfem Geräusch öffnete.
Marcus war wach. Er saß im Bett und starrte vor sich hin, die Zeitungen lagen ordentlich auf dem Bett. Das Essen war unberührt, das Glas noch immer mit Apfelsinensaft gefüllt.
»Hattest du keinen Hunger?«, fragte Rolf überrascht.
»Nein. Ich muss mit dir sprechen.«
»Dann sprich!«
Rolf setzte sich lächelnd zu ihm. »Was ist los, Liebster?«
»Du musst Cusi wegschicken. Zu Mama oder einem Freund. Egal, wohin, aber wenn er in Sicherheit ist, musst du zurückkommen. Ich muss mit dir reden. Allein. Es darf niemand sonst im Haus sein.«
»Meine Güte, wie dramatisch«, sagte Rolf und lachte angespannt. »Was ist los, Marcus? Bist du krank? Ist es etwas Ernstes?«
»Tu, was ich sage, bitte. Ich wäre sehr froh, wenn du es sofort tun könntest. Bitte.«
Seine Stimme war so anders. Nicht gerade hart, fand Rolf, aber mechanisch, als wäre es gar nicht Marcus, der das sagte.
»Bitte«, sagte Marcus noch einmal, jetzt lauter. »Bring meinen Sohn aus dem Haus und komm zurück.«
Rolf erhob sich zögernd. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, zu widersprechen, aber als er den seltsamen Ausdruck in Marcus’ Augen sah, ging er auf die Tür zu. »Ich versuche es bei Mathias oder Johan«, sagte er möglichst gelassen. »Es wäre leichter, ihn zu einem Klassenkameraden zu bringen, als den ganzen Weg zu deiner Mutter zu fahren.«
»Gut«, sagte Marcus Koll jr. »Und komm zurück, so schnell du kannst.«
»Georg Koll war ein Bekannter meines Vaters«, sagte Silje Sørensen. »Allerdings kannten sie sich nur geschäftlich. Ich bin ihm als Kind nur zwei Mal begegnet, aber das hat ausgereicht, um mir klarzumachen, dass der Mann ein kompletter Arsch war. Meine Eltern konnten ihn auch nicht leiden. Aber ihr wisst ja, wie das ist. In diesen Kreisen.«
Sie sah die anderen an und zuckte mit den Schultern, als wolle sie um Entschuldigung bitten.
Weder Inger
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