Gotteszahl
des Jahres 1962, als Eva Karin versprochen hatte, sie niemals zu verlassen. Die Bedingung war, dass ihre Liebe ihrer beider Geheimnis bleiben würde.
Martine würde niemals ein Versprechen brechen.
Der Polizist glaubte ihr.
Als er erzählte, dass die Beerdigung am Mittwoch stattfinden würde, und als sie antwortete, dass sie nicht dabei sein wollte, hatte er angeboten, nach der Feierlichkeit zu ihr zu kommen. Um zu berichten. Um bei ihr zu sein.
Sie hatte abgelehnt, aber es war ein schöner Gedanke gewesen.
Martine zog den Stuhl dichter an die Fensterbank heran und fuhr mit dem Finger über Eva Karins Mund. Das Glas war kalt unter ihren Fingerspitzen. Die Haut in ihrem Gesicht war immer so weich gewesen, so unwahrscheinlich weich und empfänglich.
Der Polizist hatte gesagt, sie würden alles tun, um die Sache nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Es würde für die Ermittlung ja kaum notwendig sein, Details bekannt zu geben, sagte er, auch wenn er natürlich nichts garantieren könne.
Jetzt, als sie vor ihrem Fenster saß und auf die Stadt hinter dem Bildnis der einzigen Liebe ihres Lebens blickte, hatte sie das Gefühl, dass es nicht so wichtig sei. Für Erik wäre es natürlich das Beste, wenn es ihr Geheimnis bliebe. Und auch für Lukas. Für sie selbst spielte es eigentlich keine Rolle mehr. Überrascht setzte sie sich gerade und atmete tief durch.
Sie schämte sich durchaus nicht.
Sie hatte Eva Karin auf die reinste Weise geliebt.
Sie und nur sie.
Langsam erhob sie sich, blies die Kerze aus.
Sie nahm das Bild zwischen ihre Hände.
Martine würde bald zweiundsechzig Jahre alt sein. Das Leben, wie es bisher gewesen war, hatte ein Ende gefunden. Es konnte aber doch noch ein ganz neues Leben als alte und weise Frau kommen.
Sie lächelte bei diesem Gedanken.
Alt, weise und frei.
Martine war endlich frei, und sie stellte das Bild zurück auf den Nachttisch. Yngvar Stubø hatte ihr von seiner eigenen Trauer erzählt, damals, als er seine Frau und sein Kind tot aufgefunden hatte, nach einem grotesken Unfall, an dem er sich selbst die Schuld gab. Seine Stimme zitterte, als er leise erzählte, wie sein Leben sich danach im Kreis gedreht hatte, in einem ewigen Rundtanz aus Schmerz, aus dem er keinen Ausweg sah.
Sie schloss die Schlafzimmertür.
Die Zeit konnte sich wieder in Bewegung setzen, und sie sprach ein stilles Gebet für den freundlichen Polizisten, der ihr zu verstehen gegeben hatte, dass es nie, nie zu spät ist für einen neuen Anfang.
Kommissar Knut Bork reichte Inger Johanne die Hand, ehe er Silje Sørensen ein Dokument hinhielt.
»Hier«, sagte er. »Ich hatte noch keine Zeit, mir das genauer anzusehen.«
Silje Sørensen öffnete eine Schublade und nahm eine Lesebrille heraus.
»Die Frau, die das gebracht hat, sagt, dass es sich um ein beträchtliches Vermögen handelt«, sagte Knut Bork jetzt. »Und der Erblasser ist offenbar schon lange tot, nur hat Niclas Winter nie irgendetwas von diesem Erbe erfahren.«
»Darf ich mal sehen?«, fragte Inger Johanne vorsichtig.
»Wir brauchen einen Juristen«, sagte Silje, ohne aufzublicken. »Das ist doch, gelinde gesagt, bemerkenswert.«
»Ich bin Juristin.«
Knut Bork und seine Chefin blickten sie überrascht an.
»Ich bin Juristin«, wiederholte Inger Johanne. »Auch wenn ich in Kriminologie promoviert wurde, habe ich doch auch ein juristisches Staatsexamen. Ich kann mich ans Erbrecht nicht so gut erinnern, aber wenn du ein Gesetzbuch hast, können wir zumindest das Wichtigste raussuchen.«
»Du beeindruckst mich immer wieder von Neuem«, sagte Silje Sørensen lächelnd und reichte ihr das Testament, dann ging sie zum Regal beim Fenster und zog das schwere rote Gesetzbuch heraus. »Aber wenn du ebenso viel wie ich über den Erblasser weißt, dann stimmst du mir sicher darin zu, dass wir ein ganzes Heer von Anwälten brauchen.«
Inger Johanne überflog die erste Seite, dann blätterte sie weiter und schaute auf die letzte.
»Nein«, sagte sie. »Der Name sagt mir irgendwas, aber ich weiß nicht, wer es ist. Was ich sagen kann, ist, dass dieses Testament bald ungültig wird, und zwar …«
Sie schaute auf. »In drei Monaten«, sagte sie. »In drei Monaten ist es nicht mehr das Papier wert, auf dem es geschrieben steht. Glaube ich jedenfalls.«
»Verflixt«, sagte Silje und stemmte die Hände in die Seiten. »Jetzt kapiere ich überhaupt nichts mehr. Rein gar nichts.«
Richard Forrester wusste, dass bald eine weitere Mahlzeit
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