Gotteszahl
erst … «
Das dünne Papier raschelte, als sie blätterte. »Paragraf 70«, sagte sie zerstreut. »Sechs Monate hat er. Von dem Moment an, in dem er von dem Testament erfährt, meine ich. Aber ich stimme dir zu, Knut. Meines Wissens gibt es eine klare Frist für … Ich meine, das ist …«
Knut wippte ungeduldig mit dem Fuß und beugte sich zum Buch vor, um mitlesen zu können.
»Paragraf 75«, sagte Inger Johanne laut und fuhr mit dem Finger an den Zeilen entlang. »Das Recht, das Erbe einzufordern, entfällt, wenn es nicht innerhalb von zehn Jahren nach dem Tod des Erblassers geltend gemacht worden ist. So hatte ich mir das auch gedacht.«
»Der 18. April dieses Jahres«, sagte Silje. »Dann läuft die Frist ab.«
Der Bildschirmschoner ihres Rechners veranstaltete plötzlich ein lautloses Feuerwerk. Es übte auf sie eine fast hypnotische Wirkung aus. In zwei Tagen wäre wieder der 19., und sie spürte, wie ihre Arme sich mit Gänsehaut überzogen.
Knut stellte die Füße auf den Boden und erhob sich. »Aber könnte Niclas denn nach zehn Jahren seinen Geschwistern alles wegnehmen?«, rief er. »Ist das nicht verdammt ungerecht?«
Inger Johanne überlegte. »Warum hat er sich mit seinen Kindern überworfen?«, fragte sie leise.
»Georg Koll?«
»Ja.«
»Wie gesagt, der war ein Arsch. Und es hat ihm sicher nicht gepasst, dass Marcus schwul ist. Die Geschwister haben sich auf die Seite ihres Bruders gestellt. Marcus Koll war wohl einer der Ersten, die wirklich … Ja, er war der Erste, von dem ich wusste, dass er offen homosexuell lebte. Es wurde ziemlich viel darüber geredet. In diesen Kreisen. Ihr wisst schon.«
Knut wusste noch immer sehr wenig über diese Kreise, und Inger Johanne sah aus, als habe sie kaum gehört, was die Hauptkommissarin da gesagt hatte.
»Niclas war auch homosexuell«, sagte sie tonlos.
»Das kann Georg unmöglich gewusst haben.«
»Bei diesem Fall in den USA gab es eine Verbindung zwischen …«
Ihr Blick war plötzlich wieder scharf. »Diese beiden Männer waren also Brüder«, sagte sie so leise, dass Knut sie nur mit Mühe verstand. »Halbbrüder. Bei einem ähnlichen Fall in den USA bestand am Ende eine seltsame Verbindung zwischen den Opfern. Kann …«
Sie ließ ihren Blick durch die Runde wandern. »Kann Marcus Koll das nächste Opfer werden?«
Ihr Blick glitt von Knut zum Kalender weiter. »Der 19. ist übermorgen«, sagte sie. »Ist das vielleicht … «
»Glaubst du an deine eigene Theorie?«, fiel Knut ihr gereizt ins Wort. »Oder hast du die schon verworfen? Wenn wirklich die › 25er ‹ hinter den Morden stehen, dann haben die ihre Leute doch längst aus Norwegen abgezogen. Verdens Gang hat so gut wie alles verraten, was wir wissen, und die Täter müssten doch Idioten sein, wenn sie … Verdammt, die Kripo steht seit vierundzwanzig Stunden in fast ununterbrochenem Kontakt mit dem FBI. Auch wenn die Amis sich vor Dankbarkeit dafür überschlagen, dass wir die Ermittlungen forcieren, und auch wenn sie Leute zu unserer Unterstützung herschicken, so sagen sie doch ganz offen, dass die Täter garantiert schon auf dem Heimweg sind.«
Inger Johanne klappte die Gesetzessammlung mit dumpfem Knall zu.
»Wenn sie ihre Morde wirklich so planen, wie wir vermuten«, fuhr Knut fort, »dann müssten wir der Aufforderung dieses Blattes hier folgen«, er schwenkte Verdens Gang , »und alle Schwulen und Lesben vor dem kommenden Montag warnen. Und vor dem 24. Und dem 27. Das wäre total …«
»Es kann nicht schaden, eine Streife hinzuschicken«, sagte Silje. »Einen Zivilwagen. Mit Polizisten in Zivil. Still und ruhig. Marcus Koll müsste darüber informiert werden, dass …«
»Er sollte so wenig wie möglich informiert werden«, wurde sie von Inger Johanne unterbrochen. »Jedenfalls darf er kein Wort von diesem Testament erfahren. Ich finde, damit sollte er unter anderen Umständen und von anderen Menschen informiert werden, als von zwei Polizisten in Zivil. Wir haben ja keine Ahnung, ob er überhaupt weiß, dass er einen Bruder hat.«
»Wir schicken trotzdem eine Streife«, sagte Silje entschieden. »Sie sagen nichts über das Testament, denn vorerst sind wir die Einzigen, die davon wissen. Stattdessen können sie … allgemeine Besorgnis um öffentlich profilierte Homosexuelle zum Ausdruck bringen. Jetzt wissen doch alle von diesem Fall. Da dürfte es kein Problem sein.«
Sie lächelte kurz und erhob sich zum Zeichen dafür, dass die Besprechung
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