Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Verarbeitung
war kärglich, Benn hatte die Arbeit auch nur unzureichend korrigiert. »Sie ist meinem jüngsten Bruder gewidmet. Bis Ober-Tertia geht es gerade noch«, 65 lautete Benns nüchterne Selbsteinschätzung.
Fachlich hatte ihn bereits die Psychiatrie Ziehens in den Banngezogen, und auf dichterischer Seite beschäftigte ihn ebenfalls Grundsätzliches. Längst hatte er bemerkt, dass seine Sprache sich der herkömmlichen Metaphorik der Jahrhundertwende bediente, während er auf der Suche nach einem neuen, gültigen, die Wirklichkeit angemessen beschreibenden Ausdruck war. Mit dem im April 1910 verfassten fiktiven Dialog
Gespräch
gelang ihm der theoretische Befreiungsschlag.
Benns erklärter Lieblingsroman in diesen Tagen war Jens Peter Jacobsens Geschichte einer Jugend:
Niels Lyhne
. Diesem Buch und den fleißig studierten Vorworten der deutschen Übersetzungen verdankte er nicht nur die Einsichten, die den Argumenten von Gert und Thom in ihrem Frühlingsgespräch zugrunde lagen, sondern er entdeckte zwischen sich und Jacobsen biographische Parallelen, die ihn offensichtlich anstachelten, dem Vorbild nachzueifern.
In einem Leben, das zwischen Traum und Realitätssinn pendelte, das fühlbar zwischen der Sehnsucht nach rauschvollem Leben, dem erlebten Ekel und seinen alltäglichen Bewältigungsstrategien sprachlos hin und her gerissen verging und ganz und gar ohne Wissen um sein Talent war, erlebte Jacobsen, wie er eines Tages seine eigene Sprache fand.
Es ist, als habe Jacobsen das künstlerische Recept gekannt, das Gustave Flaubert einst dem jungen Maupassant gegeben. Genie, lehrte dieser seinen Schüler, Genie, das sei eine lange Geduld. In jeglichem Ding stecke etwas, das noch keiner gesehen, keiner ausgedrückt habe; dieses müsse man herausholen. 66
Die Lektüre der Geschichte des phantasiebegabten Niels Lyhne beginnt für Benn einen ganz eigenen Reiz zu entfalten. Im Sommer 1910, als seine Studienzeit an der Pépinière aufhörte und er Prüfungen in Innerer Medizin, Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe sowie Augen- und Ohrenheilkunde ablegte, war er ein Dichter, der seine Sprache noch nicht gefunden hatte.
IV
EINTRITTE – ÜBERGÄNGE
(1910 – 1913)
»Ich fühlte alles Denken wie eine Flechte
auf dem Gehirn …«
1
»Psychologie: zum Kotzen«
2
Aufgrund der Prüfungsergebnisse des Sommers wurde Gottfried Benn zum Unterarzt ernannt. Seine Einheit war das Infanterie-Regiment 64 in Prenzlau, das vom 2. Garderegiment zu Fuß aufgestellt worden war, bei dem Benn zu Beginn seines Studiums die erste Hälfte des Einjährigen-Dienstes abgeleistet hatte. So wie damals üblich, wurde er unmittelbar nach Dienstbeginn an die Charité abkommandiert, um sich dort ein praktisches Jahr lang im geregelten Wechsel an den einzelnen Kliniken und Stationen fortzubilden. 3
Offensichtlich war Benn hoch motiviert, als er im Oktober 1910 seinen Dienst in der Charité aufnahm. Um seinem Lehrer Theodor Ziehen 4 zu imponieren, hatte er einen
Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie
verfasst, der wenige Tage später in den
Grenzboten
erschien und den Anfang seiner Beschäftigung mit dem faszinierenden Gebiet der Hirnforschung markierte, die sich wie ein roter Faden durch sein Gesamtwerk zieht. In seinem Beitrag fasste Benn den Paradigmenwechsel zusammen, den die Philosophie der Aufklärung und im Anschluss daran die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert durchlaufen hatten: »In beiden vollzog sich der Wandel durch … die Annahme der Induktion als methodologischen Prinzips.« 5 Ihr verdanke es die Psychiatrie, exakte Wissenschaft sein zu können, deren Lehre der Seelenerkrankungen auf der Gleichung beruhe: »Seele – Großhirnrinde; Seelenerkrankung – Großhirnrindenerkrankung«. 6 Noch vor Ablauf des praktischen Jahres war Benn selbst seelisch erkrankt und versuchte sich darüber klar zu werden, woran er litt:
Von psychiatrischen Lehrbüchern aus, in denen ich suchte, kam ich zu modernen psychologischen Arbeiten, zum Teil sehr merkwürdigen, namentlich der französischen Schule, ich vertiefte mich in die Schilderungen jenes Zustandes, der als Depersonalisation oder als Entfremdung der Wahrnehmungswelt bezeichnet wird, ich begann, das Ich zu erkennen als ein Gebilde, das mit einer Gewalt, gegen die die Schwerkraft der Hauch einer Schneeflocke war, zu einem Zustand strebte, in dem nichts mehr von dem, was die moderne Kultur als Geistesgabe bezeichnete, eine Rolle spielte, sondern in
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