Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Geschichte des Expressionismus eine besondere Wendung geben sollte – einen Kurs bei Professor Karl Benda über pathologische Anatomie. Benn wohnte damals in Moabit, im zweiten Stock der Spenerstraße 4, zur Untermiete bei der im Ruhestand befindlichen Luise Rau. Er
… hatte im Moabiter Krankenhaus einen Sektionskurs gehabt. Es war ein Zyklus von sechs Gedichten, die alle in der gleichen Stunde aufstiegen, sich heraufwarfen, da waren, vorher war nichts von ihnen da; als der Dämmerzustand endete, war ich leer, hungernd, taumelnd und stieg schwierig hervor aus dem großen Verfall. 16
Über die Entstehung der
Morgue
, dieses epochemachenden Gedichtzyklus, gibt es noch einen zweiten, sehr viel früheren Bericht Benns. Er lässt den halluzinativ erlebten Entstehungsprozess etwas weniger geheimnisvoll aussehen, indem er ihn an reale Bedingungen knüpft, die von starken Affekten bestimmt sind.
Was ihre Entstehung angeht, so …. lieber Königsmann, ich habe mir eben lange überlegt, was ich darüber schreiben soll. Es wäre soviel, daß es sich nicht so bald abmachen ließe. … Nur dies: größtenteils ist es Rache. Mich haben ja die Naturwissenschaften u die Medizin innerlich total ruiniert. Ich lebe ja schon jahrelang visàvis de rien. Suspendierter Tod. Hart an den verschiedensten Abgründen. 17
Größtenteils war es
Rache
. An den Naturwissenschaften? Der Medizin? Oder vielleicht doch an den Verlegern, die bislang noch keinen Gedichtband von ihm gedruckt hatten? An seinem Lehrer und Chef in der psychiatrischen Abteilung, Theodor Ziehen, der ihn wegen unzureichender Führung der Krankengeschichten zur Rede gestellt und entlassen hatte? An den »Spießern, Familienvätern, Oberfeldärzten u. ähnlichen Kanaken«, 18 die sich in ihrer Ruhe gestört fühlten? Oder am Vater, der ihm nicht erlaubte, das Leid der Mutter zu lindern?
Seit Februar lag, nein, saß seine 54-jährige Mutter im Sterben. Sie hatte Metastasen nicht nur in den Lungen, sondern im ganzen Körper, und bekam kaum noch Luft. Sie konnte nur noch in einer bestimmten Stellung sitzen. Einmal war sie operiert worden, ein zweites Mal lehnte sie ab, »da es zu teuer war u sie das nicht für sich ausgeben wollte oder konnte bei 7 Kindern«. 19 »Wie er den Vater haßte … Sie rief ihren Sohn zu sich: Gottfried, du bist jetzt Arzt, du musst mir helfen. Er konnte nicht helfen, und er durfte nicht lindern. Das Übel ist uns von Gott geschickt, erklärte Pfarrer Benn, wir müssen es ertragen.« 20
Es war der traurigste Winter, den Gottfried Benn bis dahin verlebt hatte. Am 24. Februar trat er als Kandidat der Medizin im geliehenen Frack vor die Prüfungskommission. Mit gutem Ergebnis erhielt er die Approbation als Arzt, hatte somit die Zulassungsbestimmungen für die Promotion erfüllt und nahm zwei Tage später, da die Dissertationsschrift bereits angenommen war, sein Doktordiplom in Empfang.
Und die Zeit drängte! Bis Ende März musste er seine literarischen Dinge in Berlin erledigt haben. In diesen Wochen überschlugen sich die Ereignisse: Herwarth Walden, der mittlerweile seine
Sturm-
Galerie gegründet hatte, zeigte zur Eröffnung in der Glinka Villa in der Tiergartenstraße die Ausstellung »Der Blaue Reiter«, die im Jahr zuvor in München für Furore gesorgt hatte.
Als im April an selber Stelle die erste große Futuristenausstellung mit Werken Boccionis, Carràs, Severinis und Russoloseröffnet wurde, hatte der Dichter der
Morgue
sich bereits bei seinem Regiment in Prenzlau gemeldet, und während Filippo Tommaso Marinetti im Cabriolet durch Berlin fuhr und massenhaft futuristische Flugblätter verteilte, trat Benn den Dienst als Unterarzt bei seiner Truppe an, um auf den Kartoffeläckern der Uckermark bei den Regimentsübungen mitzumarschieren und auf dem Truppenübungsplatz in der Döberitzer Heide im Havelland »beim Stab des Divisionskommandeurs im englischen Trab über die Kiefernhügel« 21 zu setzen.
Benns Gespür für die Einzigartigkeit und den epochemachenden Charakter der
Morgue
-Gedichte war längst nicht so ausgeprägt, wie er später vorgab. Ganz im Gegenteil: Als er dem befreundeten Redakteur der
Täglichen Rundschau
Adolf Petrenz ein Konvolut seiner Arbeiten in die Hand drückte, hielt er »andere Sachen für viel persönlicher, spezifischer für mich, mit viel mehr Energie und Arbeit hinter«. 22 Petrenz, wie Benn Pfarrerssohn und Lyriker, gab das Konvolut dann A. R. Meyer, dem Entdecker und Herausgeber Heinrich
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