Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Lautensacks und Paul Zechs und Verleger der legendär gewordenen
Lyrischen Flugblätter
. Benn hatte seine Prosatexte im Sinn, als er dies an seinem 26. Geburtstag dem Freund Koenigsmann mitteilte. In demselben Brief schrieb er:
Jenseits von gut u. böse ist ja ein dummes Litteratenwort. Primanerweisheit. Aber jenseits von Krebs und Syphilis u. Herzschlag u. Ersticken, so nun unsereins doch lebt, das ist nicht von Pappe. 23
Gleichzeitig bilden diese Worte den Auftakt zu dem 1913 erschienenen Prosatext
Heinrich Mann. Ein Untergang
, dessen Entstehung also ins Jahr 1912 zurückreicht und der damit auch dem unmittelbaren Eindruck der Krankheit und des Sterbens der Mutter geschuldet ist.
Sein Manuskript konnte Benn noch loswerden, doch die Mutter beim Sterben begleiten durfte er nicht. Am 1. April meldete sich Gottfried mit Schulden im Gepäck und einem nochnicht bezahlten Koffer in der Hand im einhundert Kilometer nördlich von Berlin gelegenen Prenzlau bei seiner Truppe. In Prenzlau »war ich, als meine Mutter starb, u war sehr traurig«. 24 Der Todeskampf, bei dem der Sohn sie anfangs noch begleitet hatte, zog sich hin bis zum Dienstag nach Ostern, dem 9. April 1912. »Sie starb den schwersten Tod, den ich gesehen habe.« 25 Einsam und verwaist fühlte er sich auf der Reise nach Mohrin, als »die über alles zärtliche und treue Mutter« fern der Heimat »in der Erde Norddeutschlands« 26 beigesetzt wurde.
Wenn es auch schließlich nur das war, daß sie manchmal sagte, man sollte sich neue Nachthemden kaufen, oder sie einem neue Strümpfe schickte, es war doch jedenfalls Liebe, die nichtmal Dank erwartete und glücklich war über jedes gute Wort. Und die eben da war, wenn man sie brauchte. 27
34 Jahre lang hatte sie in Deutschland gelebt, aber nie ihren Akzent verloren; von ihr hatte er die alpin untersetzte, pyknische Statur und sein Introvertiertsein geerbt. Von Geburt »rein romanische Rasse«, so wollte er glauben, war sie verantwortlich für seine »Melancholie«. 28 Sie war es auch, die ihn im Sommer, wenn er bei ihr im Garten saß und Kaffee trank, liebevoll ermahnte: »Du wirst mit deiner schaurigen Begriffswelt unser Levkoienbeet vernichten.« 29 Eben »irdisch, allem Lebendigen nah, die Gärten, die Felder säend und gießend: Ackerbautyp, Phalbürgertyp, mit dem realen Sein von Lächeln und Tränen«. 30
Ein Jahr nach ihrem Tod dichtete er:
Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde. 31
AUFTRITTE – UNTERGÄNGE
(1913 – 1914)
»Ich bin mir noch sehr fern. Aber ich will Ich werden!«
1
»Sein Gehirn ist ein Leuchtturm«
2
Es war ein Samstag im April 1913, als Gottfried Benn die erste Nummer des
Neuen Pathos
in Händen hielt. Schon seit drei Wochen trug er sein Entlassungsschreiben aus der Armee mit sich herum. Finanziell gesehen schien die Zukunft zwar unsicherer geworden zu sein, aber er war frei. Vehement stürzte er sich ins literarische Leben. Er machte Besuche, sprach Einladungen aus und korrespondierte lebhaft mit Verlegern und Herausgebern wichtiger Zeitschriften – wenn nicht gerade »Kaninchen, Mäuse und Affen« 3 nach ihm schrien. Im
Neuen Pathos
, das vor der Veröffentlichung seiner ersten Nummer stand, hatte er mit
Der junge Hebbel
eines seiner älteren Gedichte untergebracht. Es gefiel ihm so gut, dass er es zeit seines Lebens in Anthologien und Gesamtausgaben abgedruckt sehen wollte. 4
Ihr schnitzt und bildet: den gelenken Meißel
in einer feinen weichen Hand.
Ich schlage mit der Stirn am Marmorblock
die Form heraus,
meine Hände schaffen ums Brot. 5
Mit dem Programm der Zeitschrift, wie es Stefan Zweig formuliert hatte, konnte sich Benn jedoch nur bedingt identifizieren. Zweig forderte eine »Rückkehr zu dem ursprünglichen, innigen Kontakt zwischen dem Dichter und dem Hörer … Das neue Pathos muß den Willen nicht zu einer seelischen Vibration, zu einem feinen ästhetischen Wohlgefühl enthalten, sondern zu einer Tat.« 6 Was er meinte, war der unbedingte Wille zu einem sich stets erneuernden Humanismus; dem Menschen sollte seine zentrale Stellung zurückgegeben werden, die er in dem auf schnellen Wandel hin angelegten Modernisierungsprozess zu verlieren drohte. Das konnte man natürlich so sehen. Aberals Begründung, um lyrische Prozesse
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