Grabesdunkel
sein«, versuchte sie Agnes zu überreden. Wahrscheinlich um selbst das Problem loszuwerden.
Agnes versprach, in zwei Minuten unten zu sein.
Die junge Frau, die auf sie wartete, war groÃ, schlaksig und hatte eine etwas zu groÃe Regenjacke an.
»Du bist Agnes?«, fragte sie und reichte ihr eine dünne Hand, noch bevor Agnes antworten konnte.
»Ich bin Hanna. Hanna Sneve. Ich muss mit dir reden. Es geht um Ester.«
Agnes nickte, zog die Schlüsselkarte durchs Lesegerät und lieà sie herein. Dann nahm sie sie mit in eins der Besprechungszimmer in der zweiten Etage. Es war der deprimierendste Besprechungsraum des Hauses. Er hatte keine AuÃenfenster, sondern nur Glaswände zum Gang, an denen verblichene graue Vorhänge hingen. Der Raum war viel zu groà für zwei Leute. In der Mitte stand ein riesiger Tisch mit zwölf dunkelgrün bezogenen Stühlen. Agnes und Hanna nahmen Platz.
»Ester hat gesagt, dass ich zu dir Kontakt aufnehmen soll, falls ihr etwas passiert.«
Hanna machte einen gefassten Eindruck. Sie erzählte, dass sich Ester am vergangenen Donnerstag bei ihr gemeldet habe, dabei hätten sie sich über zehn Jahre nicht mehr gesehen. Ester habe gesagt, dass sie ernsthafte Probleme hätte. Hanna habe sie gebeten, sofort zu kommen. Ein paar Stunden später habe eine ziemlich mitgenommene Ester vor ihrer Tür gestanden. Sie habe einen verwirrten Eindruck gemacht und gefragt, ob sie bei ihr schlafen könne. Erst spätabends war sie aufgewacht. Hanna hatte einen Karton WeiÃwein geholt. Anfangs hatten sie in nostalgischen Erinnerungen an ihre Kinderfreundschaft geschwelgt. Die Stimmung war locker gewesen. SchlieÃlich hatten sie sich der Zeit genähert, nachdem sie den Kontakt zueinander verloren hatten. Hanna studierte mittlerweile Medizin im zweiten Jahr. Esters Geschichte war länger gewesen. Durch die Schule war sie noch irgendwie durchgekommen. Die Eltern hatten ihr kaum Grenzen gesetzt, aber ihr so viel Geld gegeben, wie sie gewollt hatte.
Ester hatte von ihrem Freund, Ratomir, erzählt, den sie im vergangenen Herbst im Hjørnet kennengelernt hatte. Er sei offenbar ein dicker Fisch in der Osloer Unterwelt, sagte Hanna, und handelte mit Sex und Drogen. Esters Mitbewohnerin Helle hatte zu der Zeit in gröÃeren finanziellen Schwierigkeiten gesteckt. Sie hatte ihr gesamtes Studiendarlehen für teure Klamotten und Partys ausgegeben, und die Inkassorechnungen wurden immer höher. Ratomir hatte ihr ein Angebot gemacht, das sie nicht hatte ablehnen können, und Helle hatte angefangen, für einen Prostituiertenring zu arbeiten.
»Die Bezahlung war wohl äuÃerst groÃzügig, doch einige der Kunden müssen echt widerlich gewesen sein. Deshalb hat Helle sie auch erpresst«, sagte Hanna.
»Was hat Ester dazu gesagt?«
»Helle hat ihre Kunden gefilmt, ohne dass sie das gewusst haben. Eines Tages hat Ester beobachtet, wie Helle eine CD in ihrem Badezimmer versteckt hat.«
»Wo?«
»In der Wand hinter dem Klo, hat Ester gesagt. Ester hat sich gefragt, was da lief, und schlieÃlich hat Helle ihr alles erzählt. Sie haben sich gestritten. Ester glaubte, dass Helle deshalb umgebracht wurde. Sie hat den falschen Mann erpresst.«
Hanna zog ihre Jacke fester um sich.
»Ester hatte Angst, dass die Polizei die Filme finden und ihren Freund drankriegen könnte. Deshalb hat sie die CD an sich genommen, direkt nachdem sie Helle zu Hause tot aufgefunden hat. Später ist ihr wohl klar geworden, dass Helles Mörder auf einem der Filme sein musste. Deshalb hat sie sie dir gegeben. Ester wollte, dass der Mörder gefasst wird.«
»Aber warum ist sie nicht zur Polizei gegangen?«
»Ich glaube, sie wollte ihren Freund schützen«, sagte Hanna.
»Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«
»Am Samstag. Sie hat gesagt, dass sie zu ihrem Freund geht. Irgendwie hat sie sich merkwürdig verhalten.«
»Inwiefern?«
»Sie hat zum Beispiel gesagt, dass ich nicht zur Polizei gehen darf, falls ihr etwas passiert. Dass ich nur zu dir gehen soll. Er wird dich finden, wenn du zur Polizei gehst, hat sie gesagt. Ich habe gedacht, dass sie von Helles Mörder spricht, aber jetzt denke ich, dass sie ihren Freund gemeint hat.«
Agnes sah sie scharf an. »Aber du musst doch mitbekommen haben, dass Esters Leiche gefunden worden ist? Es hat doch schon Montag in der Zeitung gestanden,
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