Grabesdunkel
verarbeitet. Terje Ãstby hatte in dem grauen Büro in der Universitätsklinik Haukeland neben ihr gesessen, als ihnen die Testergebnisse mitgeteilt wurden. Er hatte ihre Hand gehalten. Erst als er sie loslieÃ, sah er, wie fest er sie gedrückt hatte, seine Finger hatten weiÃe und rote Male hinterlassen. MS, multiple Sklerose. Vibekes Symptome waren ernst. Phasenweise litt sie unter Sehstörungen, hatte Lähmungserscheinungen und Muskelkrämpfe. Sie mussten eine Haushaltshilfe einstellen.
Glücklicherweise wohnten Vibekes Eltern im Nachbarhaus. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte Terje Ãstby die Politik und seinen Platz im Storting aufgeben müssen. Ihre jüngste Tochter war erst neun Jahre alt. Die Schwiegereltern waren noch rüstig, was ihnen ein wenig Druck nahm. Er hatte sich weiter keine Gedanken über das gemacht, was der Arzt über die möglichen Folgen für ihr Sexualleben gesagt hatte: Mangelnde Libido gehörte nun einmal zu den Symptomen der Krankheit. Mangelnde Libido erschien so klein und unbedeutend angesichts der Tragödie. Am schlimmsten waren die gnadenlosen Worte: »Die Krankheit ist unheilbar. Es gibt keine kurative Therapie.«
Erst ein halbes Jahr später hatte Terje Ãstby es wieder versucht. Es war ganz still im Haus gewesen, und seine Hand war unter Vibekes Nachthemd abwärts gewandert. Sie hatte ihn verletzt angesehen. Dann hatte sie seine Hand festgehalten, als sie sich unter ihre Slipkante schob.
»Terje, ich kann nicht.«
Er hatte nie in Erwägung gezogen, ein Verhältnis mit einer anderen Frau anzufangen. Er akzeptierte sein Schicksal. Er würde bis zu ihrem Tod bei ihr bleiben, das hatte er ihr versprochen. Er schuldete ihr alles. Sie hatte ihm vier Kinder geboren, und sie hatte ihm ihren Traum geopfert, eines Tages Hebamme zu werden, damit er sich ganz auf die Politik konzentrieren konnte. Sie war zu Hause geblieben, hatte die Kinder zur Schule gebracht, war mit zum Handballtraining und zum Schwimmen gegangen und hatte sie bei FuÃballspielen angefeuert. Sie hatte sich um seine kranke Mutter gekümmert, die ganze Familie hatte auf ihren Schultern gelastet, seinetwegen. Ja, er schuldete ihr alles.
Terje Ãstby war einsam, natürlich. Nachdem er zum Parteivorsitzenden ernannt worden war, hatte der immense Arbeitsdruck ihm geholfen. Er hatte nicht mehr so oft das Gefühl, vollkommen allein zu sein. Er hatte nur wenige enge Freunde in Oslo. Der Mitarbeiterstab, mit dem er in der Parteispitze zusammenarbeitete, war tüchtig, aber er war ihr Chef, und es war schwierig, soziale Beziehungen aufzubauen, da er an der Spitze der Hierarchie stand.
Eine Ausnahme bildete der von der Partei engagierte PR-Berater Reidar Grydeland. Die Christliche Volkspartei hatte bei den Meinungsumfragen schlecht abgeschnitten und sich Hilfe bei dem konservativen und renommierten PR-Büro Walstad geholt. Reidar Grydeland war einer der Partner. Er war unverheiratet, kam aus Ã
lesund und hatte eine Vergangenheit bei der Rechten. Zwischen Terje Ãstby und Reidar Grydeland entwickelte sich eine zwanglose Freundschaft. Sie begannen sich auch auÃerhalb der Arbeit zu treffen, trainierten zusammen, sahen sich gemeinsam FuÃballspiele an. Grydeland wurde zu einem Vertrauten für Ãstby. Nach einiger Zeit erzählte er ihm auch von Vibeke. Und später von seinem nicht existenten Sexualleben.
»Meine sexuellen Bedürfnisse sind im Vergleich zur Gesamtsituation so unwichtig geworden. Ich muss einfach mit dem Gedanken leben, niemals mehr Sex zu haben«, sagte Terje Ãstby.
Reidar Grydeland hatte ihm verständnisvoll zugehört, aber nichts weiter gesagt, hatte seinen neuen Freund nur mitfühlend angesehen.
Ein paar Tage später hatte er Terje Ãstby zur Seite genommen und ihm von dem geheimen Klub erzählt, dessen Mitglied er war, dem »Kreis«. Ein Risiko gab es so gut wie nicht. Die jungen Frauen seien durchweg gepflegte Studentinnen, die ihre Kasse ein wenig aufbessern wollten. Das Ganze sei völlig diskret. Es koste zwar einiges, aber das sei es unbedingt wert.
Terje Ãstby war zunächst wütend geworden. Doch Reidar Grydeland hatte seine Verärgerung ruhig hingenommen, als wäre er auf diese Reaktion vorbereitet gewesen. Dann hatte er ihm einen weiÃen Zettel in die Tasche gesteckt und war gegangen.
Terje Ãstby wagte nicht, den Zettel anzufassen. Nicht bevor sein Arbeitstag
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