Grabeskaelte
unangemeldeten Besuch. Ich bat sie wieder zu gehen, sagte ihr, dass ich noch einmal wegmüsse. Während ich mit ihr sprach faltete ich den Brief zusammen und steckte ihn in ein vor mir auf dem Tisch liegendes Buch. Dieses stellte ich zu den anderen in den Schrank zurück. Nachdem Cora gegangen war, machte ich mich auf den Weg. Was ich nicht wusste war, dass sie draußen wartete bis ich das Haus verließ und dann zurückkehrte. Da sie einen eigenen Schlüssel besaß, war das ja kein Problem. In ihrem Manuskript begründete sie ihr Vorgehen damit, neugierig geworden zu sein. Sie wollte wissen, was ich vor ihr zu verbergen suchte. Sie hatte sich den Titel des Buches gemerkt. Es war Schuld und Sühne von Dostojewski. Sie zog besagtes Buch heraus, fand den Brief und beschloss mir zu folgen. In der Gartenkolonie, wo unser Treffen stattfand, angekommen, wurde sie dann Augenzeuge des Mordes an Hannes Lambrecht. In ihrem Manuskript erging sie sich in allen Einzelheiten über das, was damals geschah: Sie spähte durchs Fenster. Der dahinter liegende Raum war nur spärlich von einer auf dem Tisch stehenden Petroleumlampe erhellt. Hannes saß daran und zählte die Geldbündel, die ich ihm, um ihn abzulenken mitgebracht hatte. Cora beobachtete, wie ich hinter seinem Rücken ein Stück Watte und eine kleine Flasche hervorholte. Den mit ihrem Inhalt getränkten Bausch drückte ich Hannes gleich darauf vors Gesicht. Wenig später sackte er, vom Chloroform betäubt, zusammen. In einem anderen Fach der Tasche, die ich mitgebracht hatte, befand sich ein Seil. Ich zog mir Baumwollhandschuhe über bevor ich es herausnahm. Dann knüpfte ich eine Schlinge und legte sie Hannes um den Hals. Das Seilende führte ich über einen Deckenbalken. Dann schleifte ich den Bewusstlosen dorthin. Nun kam der schwerste Teil des Ganzen. Ich zog solange an dem Strick, bis Hannes Füße einige Zentimeter weit über dem Fußboden schwebten. Er zuckte noch ein paar Mal, dann erschlaffte sein Körper. Als ich sicher sein konnte, dass er tot war, drückte ich ihm einen Zettel in die Hand, auf dem sich sein Geständnis befand. Wie du siehst, hat er mir mit seinem Erpressungsversuch letztendlich sogar einen riesengroßen Gefallen erwiesen, der es mir ermöglichte, die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken. Vorher hatte ich mir zwar schon die Geschichte mit dem Herzen ausgedacht, aber das drohte schief zu gehen. Erneut brauchte ich jemanden, dem ich den Mord an Kirstin in die Schuhe schieben konnte. Seine Geldgier hat Hannes das Genick gebrochen.
Aber um auf den Abend zurückzukommen: Ich sammelte das Geld wieder ein, deponierte Kirstins Herz als weiteres Indiz unter seinem Bett, blies die Lampe aus und verließ die Laube. All das hat Cora beobachtet und aufgeschrieben. In ihrem Manuskript erwähnte sie auch ihren Kampf, den sie all die Jahre mit sich ausgefochten hatte. Sie schrieb, dass sie hin- und hergerissen war zwischen ihrer Loyalität zu mir, der ich ihr all die Jahre wie ein Vater war und dem Drang, zur Polizei zu gehen, um der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen.“
Senta hatte fassungslos zugehört. Ihr Herz raste. Sie stand unter Schock. Dennoch zwang sie sich weiter zu fragen. Sie redete sich ein, dass Roman ihr nichts tun würde, solange sie es fertig brachte, ihn am Sprechen zu halten.
„Eins verstehe ich aber noch immer nicht. Wie kamst du auf die Idee, ihr Manuskript zu lesen? Du hast dich doch bisher kaum dafür interessiert, weshalb dann ausgerechnet diesmal?“
„Also gut! Hör zu! Ich weiß nicht, ob du dich noch an das Wochenende kurz vor Coras Tod erinnern kannst. Ich hatte mir mein gutes weißes Seidenhemd mit Rotwein bekleckert. Es gelang mir nicht, die Flecken herauszubekommen. Also klingelte ich bei dir und bat dich um Hilfe. Du hattest jedoch auch kein wirksames Mittel zur Hand, erinnertest dich aber daran, dass du für Cora erst vor ein paar Tagen eine Schachtel Entfärber besorgt hattest. Cora und Ralph waren an besagtem Wochenende im Schwarzwald, du weißt schon, diese Kurzreise, die du ihnen geschenkt hast. Deshalb gabst du mir den Schlüssel für ihr Haus und beschriebst mir, wo die Packung lag. Dann sagtest du noch zu mir, ich solle den Schlüssel in den Briefkasten werfen, du würdest ihn dir am nächsten Tag dort abholen. Also ging ich zu Cora. Ich hielt mich gerade im Flur auf, da klingelte das Telefon. Noch während ich überlegte, ob es sinnvoll sei an den Apparat zu gehen, schaltete sich der Anrufbeantworter ein.
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