Grabeskaelte
Schritt ab. Es gab nur eine einzige Person, die ihm jetzt helfen konnte und die keine überflüssigen Fragen stellen würde. Genau diesen Jemand rief er nun an …
20
Widerwillig war Senta Roman gefolgt. Er hatte sie so eindringlich darum gebeten mit ihm zu kommen, dass sie es nicht übers Herz brachte, ihm seinen Wunsch abzuschlagen. Insgeheim fragte sie sich jedoch, was von solcher Wichtigkeit sein könnte, dass es nicht warten konnte. Dank ihrer Neugier und der Tatsache, dass sie nicht mehr ganz nüchtern war, hatte Roman leichtes Spiel mit ihr. Ihm durch einen Seiteneingang, der auf den Urnenhain führte, folgend, befand Senta sich schon bald wieder auf dem Friedhofsgelände. Roman steuerte die Aussegnungshalle an. Als er sie erreicht hatte, zog er einen Schlüssel aus der Tasche und schloss auf.
„Was um alles in der Welt willst du denn hier drin und wie bist du an den Schlüssel gekommen?“, fragte Senta.
Romans Lächeln glich dem der Sphinx. „Komm mit, dann zeig ich’s dir“, entgegnete er geheimnisvoll. Nachdem Senta die Halle betreten hatte, schloss er die Tür von innen ab.
„Was soll das? Warum schließt du ab?“
„Damit wir ungestört sind.“
Der weiß getünchte Raum, in dem sie sich befanden, war nicht allzu groß. An der Wand, der Tür gegenüber stand ein Rednerpult. Dahinter hing ein großes hölzernes Kreuz. Rechts und links davon befanden sich mehrere massive Kerzenleuchter. Im Mittelgang stand ein fahrbarer Wagen, der dem Transport der Särge diente. Zu beiden Seiten davon standen jeweils ein Dutzend Stühle. Der Boden war mit Platten aus Fruchtschiefer belegt und auf der rechten Seite war ein kleines Fenster eingelassen, durch dessen Buntglasscheibe ein schwacher Lichtschein von draußen hereinfiel.
„Es ist so düster hier. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was du damit bezweckst, mich an diesen trostlosen Ort zu bringen. Bitte lass uns wieder gehen.“ Mit diesen Worten wandte sich Senta zur Tür, doch Roman hielt sie zurück. Er ergriff ihren Arm und zwang sie so, ihm zu folgen. Er steuerte das Rednerpult an, schob es etwas zur Seite und hob die darunter befindliche Bodenplatte an. Voller Unbehagen sah Senta zu, wie er aus dem sich darunter liegenden Hohlraum ein Gefäß hervor beförderte. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein ganz gewöhnliches Einmachglas. Doch sein Inhalt ließ Sentas Herzschlag einen grauenvollen Augenblick lang aussetzen.
„Da staunst du was?“, fragte Roman. Ein irres Glitzern war in seine Augen getreten. „Das ist das Herz meiner Mutter“, setzte er erklärend hinzu. „Gib es schon zu, du wärst nie darauf gekommen, hier etwas Derartiges vorzufinden, oder?“ Auf eine Antwort wartend sah er sie an. Doch Senta war zu geschockt, um etwas zu sagen. Verängstigt schüttelte sie den Kopf.
„Dacht ich’s mir doch, dass dieser Ort das ideale Versteck sein würde. Schon jahrelang dient diese Kapelle mir als Unterschlupf. Mir einen Ersatzschlüssel zu besorgen, war ein Kinderspiel. Nachdem ich ihn hatte, konnte ich ungestört herkommen um“, er wies auf das Glas, „mit Mutter zu reden. Du musst doch zugeben, dass es clever von mir war, ihr hier einen Schrein einzurichten.“
21
Sentas Gedanken überschlugen sich. Schlagartig war sie wieder nüchtern geworden. Die Show, die Roman vor ihr abzog, konnte nur eines bedeuten. Grauenvolles Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte etwas sagen, doch außer einem heißeren Krächzen brachte sie keinen Ton hervor.
„Du willst sicher wissen, warum ich Mutters Herz hierher gebracht habe. Das kann ich dir sagen. Nachdem Vater es aus ihrem sündigen Leib befreit hatte, schenkte er es mir: ›Verwahre es gut‹, hat er gesagt, ›denn mit ihrem Herzen hast du für alle Zeit Macht über sie. In ihrem Herzen wohnt ihre Seele. Von nun an gehört Mutter nur noch mir und dir‹ – und du“, schrie er mit schriller Stimme und wies dabei auf Senta „wirst mir auch bald gehören!“
„Aber Roman, was redest du denn da?“, flüsterte sie atemlos, nachdem sie es endlich geschafft hatte, sich aus ihrer Starre zu lösen.
„Mein Vater hat meine Mutter geliebt. Doch sie war eine Schlampe, hat ihn betrogen. Deshalb musste sie sterben. Und du, du bist auch nicht besser.“
„Wie, wie meinst du das?“, fragte Senta verwirrt. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wovon er sprach.
„Wie ich das meine? Ach, tu doch nicht so! Oder hast du vergessen, was du mir damals bei der Hütte am See
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