Grabstein - Mùbei: Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962 (German Edition)
»Was heißt das, den Thron besteigen?«
Lausert sagte: »Wenn man Kaiser wird.« Er sagte, sein Vater hätte das gesagt.
Der Aktionsradius der überwältigenden Mehrheit der Bauern lag im Höchstfall bei 50 Kilometern. Mein Heimatdorf war zwar nur 100 Kilometer von Hankou entfernt, aber für die Bauern lag das in unerreichbarer Ferne. Die Leute konnten ihre Sehnsucht nach Hankou nur in Kinderliedern festhalten:
»Mann im Mond komm doch mit mir
nach Hankou rüber gehen wir;
Mann im Mond, lauf mit mir, lauf
dort die Yuanjia-Brücke rauf.«
Auch die Kreisstadt war ein ersehnter – und erreichbarer – Ort. Doch auch in die Kreisstadt brauchte man hin und zurück einen ganzen Tag, und die Hälfte des Wegs führte über schmale, unwegsame und gewundene Bergpfade. Die meisten sind im Jahr nur ein-, zweimal dorthin gekommen.
Sich in den Sommernächten nach dem Waschen draußen abzukühlen war die gemütlichste Zeit für die Bauern. Manch einer saß mit der ganzen Familie vor seinem Haus, man trank selbstangebauten Tee, wedelte mit den eigenhändig aus Stroh geflochtenen Fächern und sprach über den häuslichen Kleinkram. Wer es lieber hatte, wenn etwas los war, saß mit anderen im Kreis zusammen, man kühlte sich ab und plauderte. Oder man sprach über die »Bruderschaft im Pfirsichblütengarten«, von der der Geschichtenerzähler gesprochen hatte. Aber das alles hatte man schon zigmal gehört und war es eigentlich satt. Wenn jemand etwas Neues aus der Kreisstadt erzählen konnte, bekamen alle spitze Ohren. Und wer es konnte, genoss bei den Leuten hohe Achtung.
Dass unser Dorf so isoliert war, führte bei den Bauern zwar zu Unwissenheit, dadurch konnte sich aber auch ein Teil unverfälschter Menschlichkeit erhalten. Die Antipathie meines Vaters gegen die Kampfversammlung von 1957 entsprang keinem rationalen Urteil, sondern natürlicher Menschlichkeit. Als ich 1954 das Bauerndorf verließ, um in der Kreisstadt zur Schule zu gehen, war ich ein vollkommen unbeschriebenes Blatt.
Als die KP Chinas die Macht übernommen hatte, wurde das Land gegen alle Theorien und Informationen aus dem Ausland abgeschottet, andererseits hat man die traditionellen ethischen Normen vollständig negiert. Die Regierung hatte das Monopol auf Information und das Monopol auf Wahrheit. Das Zentralkomitee der KP Chinas war das Zentrum der Macht, das Zentrum der Wahrheit und auch das Informationszentrum. Sämtliche wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen wiesen mit allem Nachdruck die Richtigkeit des Regimes der Kommunistischen Partei nach; sämtliche kulturellen und künstlerischen Institutionen priesen vehement die KP Chinas; sämtliche Nachrichtenorganisationen verbreiteten Nachrichten, die den Glanz und die Größe der chinesischen Kommunisten bestätigten. Von den Kindergärten bis zu den Universitäten war es die erste Pflicht, Schülern und Studenten die kommunistische Weltanschauung einzupflanzen.
Die sozialwissenschaftlichen Organisationen, Kulturverbände, Nachrichtenorgane, Schulen und Universitäten – alle wurden zu Instrumenten der KP Chinas beim Aufbau ihres Monopols über das Denken, den Geist und die Öffentliche Meinung, sie alle formten rund um die Uhr die Seelen der jungen Menschen. Und wer in diesem Bereich arbeitete, hielt sich viel darauf zugute, solch ein »Ingenieur von Menschenseelen« zu sein.
Unter diesen Bedingungen, isoliert von Ideen und Informationen, hat die Zentralregierung mit ihrer Monopolmaschinerie langfristig kommunistische Wertvorstellungen verankert und alle anderen Wertvorstellungen verurteilt und beseitigt. Auf diese Weise wurden in den Köpfen der jungen Menschen klare und stramme Vorstellungen davon geschaffen, was richtig und falsch, was zu lieben und was zu hassen sei, samt einer tiefen Sehnsucht, die kommunistischen Ideale zu verwirklichen. Wenn sich in dieser Zeit in Wort und Tat irgendetwas vernehmen ließ, das gegen diese Ideale sprach oder mit ihnen nicht übereinstimmte, wurde es unweigerlich von der Masse attackiert.
Neben der massiven Indoktrination durch Sozialwissenschaften, Nachrichten, Literatur, Kunst und Schule war die der Organisation, also der Partei, noch weit wirkungsvoller. Auf allen Organisationsstufen der KP Chinas gab es zentrale Persönlichkeiten, um die herum sich wesentliche Unterstützer gruppierten; eine Ebene kontrollierte die andere, eine Ebene war der anderen ergeben.
Die ständigen politischen Kampagnen, die in die Tausende und Abertausende gehenden
Weitere Kostenlose Bücher