Grabt Opa aus - Ein rabenschwarzer Alpenkrimi
zog die Klinke herunter und robbte hinaus. Seine Herrenhandtasche ließ er zurück, jetzt wollte er nur noch das nackte Leben retten. Na ja, nicht nackt, er trug Jeans und ein hellgraues Sweatshirt, aber bis in seinen tiefsten Kern hinein war er sich sicher, dass sein Heil einzig in der Flucht bestand.
Und er würde auch nicht erst nächste oder erst übernächste Woche nach Tirol fahren. Er würde jetzt sofort seinen Koffer packen und mit dem nächstbesten Zug die Stadt verlassen.
Es war ein wenig wie im Wilden Westen: Der Schurke hatte eine Maid geschwängert und eine Scheune abgebrannt und musste die Stadt verlassen, wenn er nicht an den nächsten Baum geknüpft werden wollte. Alfie hatte nie und nimmer damit gerechnet, dass aus ihm einmal ein solcher Westernunhold werden würde, aber offenbar hatte das Schicksal genau diese Laufbahn für ihn vorgesehen. Das lag ihm wohl im Blut, er teilte sichtlich nicht nur den Nachnamen mit Onkel Matze. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen ...
Vor dem Café sprang Alfie auf die Beine. Als er zu seiner Wohnung rannte, hörte er schon die nahenden Feuerwehrautos. Er rannte schneller.
Womöglich – nein, gewiss – wäre er stehen geblieben und hätte sich allem gestellt, was in seiner Heimatstadt auf ihn wartete, wenn er nur gewusst hätte, was in Tirol noch alles auf ihn zukommen würde.
Aber er wusste es nicht.
Und rannte weiter.
Alfie „Kimble“ Gänswein auf der Flucht.
2
Zwei Fremde im Zug
Die Hölle, das sind die anderen.
Oder ein Fernzug.
Alfies Flucht war anfangs problemlos verlaufen. Im Schweinsgalopp war er vom Café Schröpp nach Hause gewuselt, hatte dabei ständig über die Schulter geschaut, aus Sorge, sein Chef sei hinter ihm her und würde ihn mit seinen wuchtigen Pranken ungespitzt in den Boden rammen. Aber es hatte ihn niemand verfolgt.
In seiner Vollwaiseneinzimmerwohnung war das Nötigste rasch in den Einkaufstrolley seiner Großmutter gepackt. Letzterer diente ihm als Koffer. Wer nie reist, braucht keinen solchen, und was machte es schon für einen Unterschied, ob man einen überteuerten Designer-Rollkoffer besaß oder einen praktischen Einkaufstrolley im Schottenkaro? Eben. Unterwäsche, Hygieneartikel, ein Pulli, das Kirschkernkissen, sein Ausweis sowie sein Impfpass und seine Ukulele, deren Transportköfferchen – dank einer Innentasche – ihm gleichzeitig als Sparschwein für seine Ersparnisse diente. Hatte er was vergessen? Egal, das musste reichen. Er wollte nur so schnell wie möglich aus der Stadt verschwinden.
Am Bahnhof gab es noch eine satte Wartezeit, was ausnahmsweise nicht an der Deutschen Bahn lag, sondern an Alfies Ungeübtheit mit dem Ticketautomaten. Jeder andere hätte einfach die Reisenden am Bahnhof gefragt, wer ihm kurz helfen könnte; nicht so der schüchterne Alfie. Zwei Züge fuhren ohne ihn, weil er mit den Tücken der Technik kämpfte. Doch dann war es soweit. Mit dem Bummelzug in die nächste Großstadt, dann mit dem City-Nightliner weiter bis München, in Bielefeld ausgestiegen, weil im falschen Zug gesessen, nach Hannover zurückgefahren (ohne Aufpreis, weil ihm der Schaffner aufgrund der Panik in seinen blauen Welpenaugen glaubte, dass es sich um ein Versehen handelte), in Hannover in den richtigen Zug gestiegen und nach München gefahren, wo er im morgendlichen Berufspendelverkehr eintraf.
So weit, so gut.
Weil die Fahrkarte schon teuer genug gewesen war, gönnte sich Alfie nur einen einfachen Coffee to go und stellte sich ungefähr bahnhofsmittig an den Bahnsteig, auf dem jeden Moment der EuroCity nach Innsbruck einrollen sollte.
Am Nachbargleis quollen wahre Menschenmassen aus einem Nahverkehrszug, und Kleinstadt-Alfie, der solche Völkerwanderungshorden nicht gewöhnt war, stand immer irgendwie im Weg und rückte zentimeterweise weiter vor an sein Gleis. Ehe er sich’s versah, versetzte ihm jemand – gerade als der ÖBB-Zug einfuhr – urplötzlich einen ungehaltenen Aus-dem-Weg-Schubser, der Alfie nach vorn in Richtung Gleis katapultierte.
Es war eine Schrecksekunde, die zur Ewigkeit wurde.
Alfie hörte Schreie: „Oh Gott!“ und „Nein!“ und „Aaaaaah!“ Letzterer kam definitiv aus seiner Kehle.
Ihm fiel auf, dass sein Leben nicht in allen Einzelheiten an ihm vorüberzog. Oder vielleicht tat es das, war aber dermaßen uninteressant, dass er es gar nicht mitbekam.
So war es immer schon gewesen – er war das Kind, das im Sportunterricht den Ball an den Kopf bekam, er war derjenige, dem auf
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