Granatsplitter
zerzaustem Haar. Erwartungsvoll begrüßte ihn dieser mit Handschlag, und er musste von seinen Erfahrungen in Kent und Lincolnshire erzählen, während die beiden ihm abwechselnd rieten, was für eine Wahl er unter den indischen Speisen treffen sollte. Das allerschärfste oder, wie sie es nannten, allerheißeste Fleischgericht, Huhn oder Lamm, sollte es nicht sein. Aber doch etwas Exotisch-Würziges. Dazu Pilawreis, der nicht ganz weiß, sondern mit winzigen roten Körnern durchsetzt war. Auch etwas Brot, »nan« genannt. Als Vorspeise entschied er sich für in Öl gebratene Zwiebeln. Es gab eine Karaffe Wasser, aber Guy meinte, er solle heute ruhig ein Glas von besonderem Rotwein dazu trinken.
Schon der Raum hatte einen wie ein seltenes Parfum wirkenden Duft, nicht betäubend, aber doch sich auf die Sinne legend. Die Vorspeise, zusammen mit schon auf dem Tisch stehenden süß und scharf aromatisierten marmeladeartigen Gelees sowie zwei großen Scheiben ganz dünnen Brots, ähnlich wie das der Hostie bei der Heiligen Kommunion, Papadam genannt, war wie die Einführung in ein riesiges exotisches Reich. Das, was folgte, das Lamm, war noch immer so scharf, dass er ständig von dem süßen Gelee Gebrauch machte. Es schmeckte ihm aber so gut, wie ihm selten etwas geschmeckt hatte. Waren es die Gewürze der Gelees oder die Soßen, jedenfalls wurde er in einen gehobenen rauschhaften Zustand versetzt. Da auch der Freund Guys fließend Deutsch sprach, konnte er seiner gelösten Zunge nachgeben und seiner glücklichen Stimmung Ausdruck verleihen, wie er wollte. Er hatte auf den Fotografien mit dem indischen Militär auch englische Offiziere entdeckt und fragte die beiden Tischnachbarn danach. Julian, so hieß Guys Freund, begann sofort, ihm das ausführlich zu erklären, denn sein Vater war Offizier in der britisch-indischen Armee gewesen. Diese indischen Offiziere gehörten zu einem bekannten nordindischen Regiment unter dem Kommando eines britischen Generals. Es war ja erst fünf Jahre her, dass die ehemalige britische Kronkolonie vom Mutterland unabhängig geworden war und mehr oder weniger alle Engländer abgezogen worden waren. Guy und Julian redeten über Indien in einer vertrauten Weise, denn beide waren mehrfach dort gewesen, Julian sogar noch nach der Unabhängigkeitserklärung, die einen bestialischen Bürgerkrieg zwischen Hindus und Muslims auslöste. Der Vater Julians hatte dort noch Beziehungen unterhalten und gehörte zu der Sorte von englischen Konservativen, die ähnlich wie Winston Churchill die britische Oberherrschaft unbedingt aufrechterhalten wollten.
Was er denn von Indien wisse, fragten sie ihn. Ihm fiel nur ein ungeheuer spannendes Buch ein von John Masters, Nightrunners of Bengal , von dem ihm sein Griechischlehrer erzählt hatte, der sich in der englischen Geschichte gut auskannte. Die Geschichte schilderte den berühmten Aufstand der indischen Soldaten der britisch-indischen Armee gegen ihre britischen Offiziere, ja das Töten der gesamten weißen Oberschicht in Verwaltung und Business, deren sie habhaft werden konnten. Das war fast genau hundert Jahre her. Der Bericht des Griechischlehrers hatte seine Phantasie enorm gefangengenommen: Der Aufstand, die Meuterei der Sepoys, wie die indischen Soldaten hießen, war nicht nur extrem blutig gewesen und hatte England beinahe die Kontrolle über ganz Indien gekostet, sondern war auch der Ausdruck zweier so überaus gegensätzlicher Kulturen, die sich in manchem aber auch angenähert hatten. Das war das Aufregende daran. Julian erzählte von der Liebe seines Vaters zu dem exotischen Land, nicht zu den Indern. Die Verwaltung der East-India Company, die seit 1700 die Interessen englischer Unternehmer garantierte und im 18. Jahrhundert von Kalkutta aus praktisch ganz Bengalen kontrollierte, war ja erst nach dem Sepoy-Aufstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die unmittelbare Herrschaft der britischen Regierung ersetzt worden. Das hatte bei Leuten wie Julians Vater zur Folge gehabt, dass sie nunmehr innerlich noch härter Indien als Zentrum des britisches Empires halten wollten. Die britische Indienarmee war nach dem niedergeschlagenen Sepoy-Aufstand zum stolzesten Teil von Britisch-Indien geworden. Ohne sie wäre Rommel, der neue Liebling der englischen Presse, wahrscheinlich bis nach Ägypten vorgedrungen. Deshalb die Fotografien an den Wänden. Das Interesse von Söhnen aus mittleren und etwas besseren, aber keineswegs aus den adligen und
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