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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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hatte ja berufshalber mit Politikern zu tun. Dass er fließend Deutsch sprach, war überraschend. Aber er wusste schon, dass vor dem Krieg Engländer mit einem gewissen Bildungsgrad nach Deutschland gekommen waren, um Land und Leute kennenzulernen, vor allem die Kultur. Über seinem Bett hing ein kleineres Bild, auf dem eine Reihe ineinander übergehende, gotisch und barock aussehende, sehr schöne Gebäude zu sehen waren. Das war Cambridge, der Name stand am unteren Rand. Guy hatte dort wohl studiert. An der gegenüberliegenden Wand erblickte er ein Bild in relativ dunklen Farben, auf dem ein Flötenspieler zu erkennen war. Der kam ihm bekannt vor. Er stand auf und sah, dass es eine Gestalt in dunkelblauem Uniformrock und einem Dreispitz auf dem mit einer gezopften Perücke bedeckten Kopf war. Natürlich, es war der preußische König. Er las die Unterschrift: »Frederic the Great, playing the flute«. Auch das war nicht verwunderlich. Das Bild hätte ihn überrascht, wenn er nicht schon gewusst hätte, dass sein Gastgeber fließend Deutsch sprach und wohl keine Animositäten gegen alles Deutsche unterhielt, obwohl der Krieg ja gerade erst wenige Jahre vorbei war.
    Unten im Salon hatte Guy in einem großen Kamin ein Feuer angezündet. Ob er Musik gerne hätte, fragte ihn sein Gastgeber. Das war eine gefährliche Frage. Seine Antwort war ausweichend. Er hätte zwar im Internat im Chor gesungen, spiele aber kein Instrument und verstehe auch nicht allzu viel von Musik. Guy legte darauf entschlossen eine Platte von Purcell auf. Purcell hatte die Witwe, seine Regisseurin, oft gespielt. Guy erzählte ihm, dass er häufig vor dem Krieg und auch danach wieder zu den Musikfestspielen in Herrenhausen gefahren sei. Deutsch habe man in der Familie gesprochen, sodass er es nicht in der Schule lernen musste. Die häufigen Fahrten nach Deutschland hätten seine Sprachkenntnisse noch verbessert. Kein Wort wurde über den Krieg gewechselt oder gar über das, was ihn ausgelöst hatte. Stattdessen fragte ihn Guy, was er in London alles sehen wolle, und als sein Gastgeber hörte, dass er zuallererst die Gegend um die St Paul’s Kathedrale kennenlernen wolle und dann das East End und die Hafendocks, vor allem die East Indian Docks, meinte Guy, bis St Paul solle er ruhig zu Fuß gehen. Das dauere zwar etwas länger als eine Stunde, wenn er wirklich zügig ausschritte, aber dadurch lerne er das Zentrum von London von West bis Ost etwas kennen. Die Docks würden bald ihre alte Bedeutung verlieren, weil sich Englands Handelswege mit der Welt jetzt schon völlig änderten. Im übrigen gab Guy ihm einige Tickets, mit denen er, wenn er wolle, auch alleine im Reform Club lunchen gehen könne.
    Er kam sich ziemlich verloren vor. Er hatte ja Geld verdient und wusste inzwischen auch aus Lincolnshire, dass es zum Beispiel Kabeljau mit in Öl gebratenen Kartoffelscheiben, genannt »Fish ’n’ Chips«, für wenig Geld an jeder Straßenecke gab. Das hätte er jeden Tag essen können, so gut hatte es ihm geschmeckt. Nun also die Aussicht, häufiger in den Reform Club gehen zu können, was ihn weniger wegen der Mahlzeiten als wegen des großartigen Inneren, vor allem auch der Bibliothek, freute. Die unteren Räume von Guys Haus bestanden aus zwei auf der rechten Seite liegenden Zimmern, dem Salon mit dem Kamin und einem weiteren Esszimmer zum Garten hin, das durch eine Flügeltür vom Salon getrennt war. Außerdem lag am Ende des Flurs links unter der Treppe der Eingang zu einer relativ kleinen Küche. Sein Eindruck, Guy habe keine Familie, war wohl richtig, denn sonst wäre sicher der Name seiner Frau gefallen. Der Abend kam, und Guy schlug vor, dass man zum Abendessen, zum Dinner, in ein naheliegendes indisches Restaurant gehen sollte. Dort wartete auch einer seiner Freunde auf sie. Ob er schon einmal indisch gegessen habe? Nein, noch nie. Dann wäre es höchste Zeit, denn er würde sehen, das sei köstlich.
    Das indische Restaurant am Ende der Straße schimmerte in dunkelrot ausgelegten Seidenwänden, an denen schwarzweiße Fotografien von indischen Offizieren und Soldaten mit Turban hingen. Die Lampen war aus golden wirkendem Messing, zu deren Licht die hier und da stehenden Kerzen ihren Schein beitrugen. An einem der Tische saß schon der Freund Guys, der viel jünger wirkte, etwa fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte im Unterschied zu Guys jovial wirkendem ruhigem Ausdruck ein scharfgeschnittenes längliches Gesicht unter blondem, etwas

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