Granatsplitter
an? Und so freundlich. So ungewöhnlich freundlich, als ob er ihn schon lange kenne und möge. Als er oben auf der ersten Etage angelangt war und sie sich gegenüberstanden, gab Guy ihm nicht die Hand, sondern legte sie ihm auf die Schulter und sagte nur »Come on«. Sie gingen zu einem eleganten Speisesaal, wo schon ein gedeckter Tisch mit weißem Tischtuch auf sie wartete. Er fragte, wie die Reise gewesen sei und wie er England fände. Das fragte er aber nicht auf Englisch, sondern in deutscher Sprache, die er mit leichtem Akzent fließend beherrschte. Innerhalb von zehn Minuten war er in einer neuen Welt aufgetaucht, von der er bisher nichts gewusst hatte. Sie saßen zwischen prächtigen Säulen, an den Wänden hingen riesige Gemälde, die offenbar wichtige Männer der Vergangenheit, die auch Clubmitglieder gewesen waren, zeigten, oder aber Landschaften und historische Szenen. Der Saal war ziemlich gefüllt mit anderen Gästen, aber man hörte von den verschiedenen Tischen keine laute Rede, wie man es aus Restaurants kennt. Alles ging in gedämpftem Ton vor sich. Was ihn überraschte, war, dass er keine Frauen sah. Er fragte seinen Gastgeber, was das bedeute, und der erklärte ihm eingehend, dass alle englischen Clubs nur Männer als Mitglieder hätten. Es gäbe unter Männern dies und das zu besprechen, und das schöne Geschlecht lenke dabei ab. Ihm leuchtete das sofort ein, wenn er bloß an die Berlinerin zurückdachte. Wie wäre die ganze Atmosphäre mit einem Schlag verändert, wenn an jedem Tisch auch Frauen säßen. Doch, diese Regelung war sehr weise. Abgesehen von der Ablenkung verstünden die meisten Frauen auch nichts von den Dingen, die hier besprochen würden. Die Verschiedenheit der Clubs läge in Berufs- und Klassenzugehörigkeit. Direkt um die Ecke gebe es den besonders exklusiven Athenaeum Club, in dem vor allem hervorragende Theologen, Bischöfe und namhafte Akademiker die Mehrheit der Mitglieder stellten. Sein Club, der Reform Club, werde vor allem von Juristen und einflussreichen Journalisten besucht. Guy selber war als Anwalt im Home Office tätig, also dem Innenministerium.
Da er es nicht gewohnt war, am Tage Wein zu trinken, stieg ihm die Flasche Sancerre, die sie miteinander leerten, leicht in den Kopf, und die prächtige Decke, das ganze Dekor dieses grandiosen Gebäudes wurde noch grandioser in seinem träumerischen Geist. Als sie dann in der Bibliothek den Kaffee einnahmen und er all die prächtig eingebundenen historischen Werke, vor allem zur englischen Geschichte, entdeckte, da wusste er, dass er in einem Zentrum der Welt, ja der Weltgeschichte selbst angekommen war. Sie fuhren in Guys Cabriolet, dessen Dach trotz der Jahreszeit nicht geschlossen war, nach Victoria Station, wo er sein Gepäck holte, dann nach South Kensington, wo Guy wohnte. Den Namen South Kensington hatte er noch nicht gehört, im Unterschied zu anderen Londoner Gegenden wie Fleet Street oder Bloomsbury. Guys Haus lag in einer schönen, nicht allzu breiten, altmodischen Straße mit Bäumen, Drayton Gardens 54. Der Eingang war eingerahmt von zwei weißen Säulen, wie er sie schon auf der Autofahrt bei vielen Familienhäusern dieser Gegend in verschiedenem Stil und verschiedener Größe bemerkt hatte. Das Haus stammte bestimmt aus dem vorigen Jahrhundert. Oberhalb des ebenfalls weißen Sockelbaus alles in grauem Backstein, wovon sich die großen weißgestrichenen Fensterrahmen und Fensterbänke elegant abhoben. Die Tür war aus grünem Holz und hatte einen Türklopfer. Er bemerkte noch, dass das Haus dreistöckig war. Er bekam einen wohl als Gästezimmer benutzten kleinen, aber gemütlichen, mit Büchern versehenen Raum, von dem aus man in den Hintergarten sehen konnte. Ihm fiel sofort die eigentümliche englische Fensterform auf. Diese Fenster bestanden nicht, wie er es aus der Heimat kannte, aus zwei Flügeln, die man nach rechts und links öffnete, sondern aus zwei Teilen, deren oberen Teil man herunterzog. Guy hatte ihm gesagt, er solle sich einrichten, etwas ausruhen und in einer Stunde herunterkommen. Die paar Sachen waren bald im Schrank, der neue Dufflecoat am Türhaken, und er lag auf der enggemusterten wollenen Bettdecke und dachte nach. Eigentlich war er sprachlos. Der Lunch und der Kaffee in der Bibliothek waren ein angenehmer, aber irgendwie ungenau gebliebener Eindruck. Was für ein Mann war dieser Guy? Offenbar ohne Familie, sehr wohlhabend und gebildet. Wahrscheinlich politisch interessiert, denn er
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