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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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sozusagen wie einen Sieger und wollten natürlich einen Siegesbericht. Er schüttelte nur den Kopf. Er konnte ihnen nicht sagen, was passiert war, aber auch nicht bestätigen, was sie erwarteten. So ließ er sie im unklaren über die ganze Unternehmung und ging bedrückt auf sein Lager.
    Am nächsten Tag bekam er eine Genugtuung. Aus welchem Grund auch immer, plötzlich tauchte die Berliner Studentin an dem Apfelbaum auf, an dem er und andere gerade beschäftigt waren, und schlug ihm vor, zusammen eine Akkordgemeinschaft zu bilden. Sie wusste nichts von der Wette seiner Zeltkameraden und ahnte deshalb nicht, dass ihre zukünftige Zusammenarbeit in den Äpfeln als eine Bestätigung ihrer Annahme wirkte, dass sie beide etwas miteinander hätten. Ihm war das eigentlich zuwider, aber jetzt war sie für ihn tatsächlich doch begehrenswert geworden. Aber etwas lenkte ihn ab. Ein Brief aus London war eingetroffen, ein ungewöhnlicher Brief. Der Absender in der rechten oberen Ecke lautete »Reform Club«. Die Unterschrift war nicht gut lesbar, nur der Vorname, nämlich Guy. Der Absender redete ihn nicht mit Mr. und seinem Familiennamen an, sondern mit »Sir«. Der Inhalt bestand nur aus einem Satz, den er gut verstand: Man erwartete ihn am soundsovielten Oktober zur Lunchzeit im Reform Club, Pall Mall, London. Das war die Einladung zu einer der sogenannten Hospitalities, die vom britischen Landwirtschaftsministerium organisiert worden waren: Englische Familien waren gebeten worden, ausländische Studenten, die in der Landwirtschaft arbeiteten, für eine bestimmte Zeit einzuladen, um bei ihnen zu leben und England besser kennenzulernen. Er und andere Studenten, die daran interessiert waren, hatten ihre Lebensläufe und Studieninteressen samt Foto an das Landwirtschaftsministerium geschickt, und jetzt schon war die Antwort da, noch bevor sie alle nach Lincolnshire zur Kartoffelernte fuhren. Die Berlinerin fuhr nicht mit. Sie pflückten noch eine Woche zusammen Äpfel, dann verabschiedete sie sich von ihm, streifte dabei mit ihrem Mund kurz seine Wange und meinte, er solle sie in Berlin besuchen. Sie sagte noch: »Das nächste Mal ein besseres Timing.« Dann war sie weg.
    Er war froh, als sie nach Lincolnshire fuhren und er nicht zu viel an sie denken musste. Inzwischen war es kälter und feuchter geworden. Die Nebel lagen über dem neuen Camp, das ähnlich wie das alte war. Erdklumpen hingen jeden Abend an den schweren Schuhen. Er bereitete sich innerlich schon auf die Fahrt nach London vor. Dem Sergeanten, der noch immer sein Chef war, hatte er den Brief gezeigt, worauf dieser eine Art innere Haltung annahm und so etwas sagte wie: »Boy, boy, das ist eine ganz feine Adresse. Dazu musst du dir was Entsprechendes zum Anziehen kaufen. Am besten eine dunkelblaue Jacke, eine graue Hose und darüber einen Dufflecoat.« Dufflecoats, ursprünglich die Überzieher britischer Seeoffiziere, waren bei englischen jungen Leuten in Mode gekommen. Auch der Film Der dritte Mann hatte dazu beigetragen, in dem Trevor Howard einen solchen Dufflecoat getragen hatte, wohlverstanden in gelblich verschlissener Farbe und mit den richtigen Kordeln aus Schiffstauen. Mitte Oktober war es soweit. Mit einem beträchtlichen Verdienst in der Tasche, die buchstäblich mit Pfundnoten vollgestopft war, und vollständig neu eingekleidet fuhren sie in verschiedene Richtungen davon. Der Spanier hatte ihm den Brief einer schottischen Witwe gezeigt, von der er sich etwas versprach, der Franzose fuhr nach Manchester.
    Als er nach einer viereinhalbstündigen Eisenbahnfahrt in Victoria Station ankam, verstaute er Koffer und Rucksack bei der Gepäckaufgabe, ging zum nächsten Taxi und sagte die Adresse »Reform Club, Pall Mall«, hörte »Yes, Sir« und stand nach nur einer Viertelstunde vor einem mächtigen, würdevollen, palastartigen, dunklen Gebäude. Es war zwölf Uhr dreißig, genau die Zeit, zu der er erwartet wurde. Ein Pförtner in einer prächtigen Uniform und mit Zylinder geleitete ihn zu den marmornen Treppenstufen im Inneren, die er erwartungsvoll emporstieg. Oben wurde er von einem mittelgroßen, etwa fünfzigjährigen Mann mit einem Glas in der Hand empfangen, der auf ihn herabblickte und mit einem tiefen englischen Akzent »Hello« rief und seinen Vornamen nannte. Er war völlig überrascht. Er stand also vor Guy, seinem Gastgeber. Aber wieso sprach er ihn, ohne ihn zu kennen, ohne jede Begrüßungsformel, so einfach selbstverständlich mit dem Vornamen

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