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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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reichen Familien, als Berufssoldaten nach Indien zu gehen, habe erst Ende des 19. Jahrhunderts begonnen. Die Kämpfe gegen die Pathanenstämme an den Pässen der Nordwestgrenze hätten eine Courage gefordert, wie sie Gary Cooper und seine bengalischen Lanzenreiter nur andeutungsweise spielen konnten. Andererseits wäre das Kasinoleben bis zum Schluss feudal gewesen. Das war die Generation vor Julians Vater, von dem dieser alles wusste, was er im indischen Restaurant zum besten gab. Obwohl es also indische Regimenter gab, die gegen die Deutschen in Afrika gekämpft hatten und auch weiterhin den Engländern halfen, ihre Kolonien zu verteidigen – war nicht die Mehrheit der politisch denkenden Inder gegen die Briten und ihre Herrschaft eingestellt? Er wusste ohnehin aus der Lektüre deutscher Zeitungsartikel, dass die britische Kolonialherrschaft nicht nur so zivil gewesen war, wie die Engländer es sich gerne vorstellten. Danach fragte er die beiden auch. Ja, nach der japanischen Eroberung der englischen Besitzungen in Ostasien, vor allem nach dem Fall von Singapur, hofften viele Inder, bald ebenfalls die britische Oberhoheit loszuwerden und die Unabhängigkeit zu erlangen. Und dennoch. Es gebe auch nach der Unabhängigkeitserklärung die fortgesetzte Mitgliedschaft vieler indischer Soldaten in der britischen Armee. Und außerdem: Gandhi hatte trotz seiner Gegnerschaft zur britischen Herrschaft ausgesprochene Sympathie für die englische Kultur gezeigt, und Nehru wirkte fast wie ein englischer Gentleman.
    Wie er so mit den beiden ihm fast noch fremden Engländern in diesem Restaurant saß, hatte er den Eindruck, dass das, worüber sie redeten, eigentlich nicht vergangen war. Inder und Indien waren etwas ganz Selbstverständliches für sie. Das war so weit entfernt von zu Hause, wo man von solchen Ländern eigentlich nur durch Sagen und Märchen hörte und wusste. Waren die Engländer solchen bunten, heißen Gegenden näher als den anderen Europäern? Vor kurzem war das offenbar noch so. Und jetzt? Wie sie ihm die scharfen Speisen erklärten, da klang das so, als ob es ihr Alltag wäre. So sprachen sie auch von Neu-Delhi und Kalkutta wie von Vororten Londons. Dabei war Indien inzwischen aber doch in weite Ferne gerückt. Das hatte auch damit zu tun, so Guy, dass in England die Lebensmittel noch immer rationiert waren und der Krieg die Leute erschöpft hatte. Mit dem Abzug der Briten aus Indien im September 1947 wäre auch die Zeit der unermesslich reichen Maharadschas, die die englische Herrschaft unterstützt hatten, vorbei gewesen. Offenbar entsprach der extrem luxuriöse, zum Teil auch halbkriminelle Lebensstil vieler dieser Maharadschas, wie er ihn in dem Film Der Tiger von Eschnapur gesehen und den er für eine Kinoübertreibung gehalten hatte, der Wirklichkeit.
    Dass das Empire noch nicht vorbei war, das war ja schon sein Eindruck im Reform Club gewesen. Dieser Eindruck verstärkte sich am nächsten Tag, als er sich, ausgerüstet mit einer Karte von Zentrallondon, auf den Weg zur Fleet Street machte. Guy hatte ihm einen uralten kleinen Guide aus dem Jahre 1909 mitgegeben, wo er nicht nur die wichtigsten Gebäude und Sehenswürdigkeiten, sondern vor allem auch die Straßen fand, die er nehmen musste. Vom Historischen Museum an der Cromwell Road ging es hinauf nach Knightsbridge und zu Hyde Park Corner. Von dort bis zum Piccadilly Circus und zum Leicester Square, dann über den Trafalgar Square in den Strand, wo er praktisch schon in Fleet Street und der City war. Fleet Street war das berühmte Zeitungsviertel, das wusste jeder. So einfach war das aber nicht, dorthin zu kommen. Es war ein düsterer Vormittag, ein grauer Himmel und dichter Nebel. Anstatt nach Knightsbridge zu kommen, stieß er, irgendwie sich verlaufend, auf Eton Square. Hier standen viel mächtigere Häuser als in Drayton Gardens. Zu Hause hätten in diesen Häusern mehrere Familien gewohnt, hier waren das wohl Einfamilienhäuser, halbe Paläste, die häufig auch als Botschaften benutzt wurden. Wer wohnte aber ansonsten in solchen Bauten? Natürlich gab es immens reiche englische Familien, obwohl die Labour-Regierung nach dem Krieg durch hohe Steuern vor allem die landbesitzende Aristokratie entmachtet hatte. Der Reichtum kam zum Teil noch immer aus den Kolonien, zum Beispiel von den Gummiplantagen in Malaysia, weshalb die Engländer dort drauf und dran waren, einen neuen Kolonialkrieg gegen die nationalistischen Aufständischen zu führen. Fast

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