Granatsplitter
etwas Wichtiges sei in sein Leben getreten. Es gab noch weitere Eindrücke dieser Art. Einige Schüler der eigenen Klasse und der nächsthöheren waren es, die ihm ins Auge fielen. Neben zwei Jungen waren es Feo, die feine Gedichtleserin mit der abweisenden Haltung, und Britta, ein irgendwie rätselhaft wirkendes Mädchen, das nur selten etwas sagte. Wenn sie aber etwas sagte, hörte er ihr besonders gerne zu, denn sie war ziemlich frech. Sie sprach ausgesprochen selbstbewusst, als wüsste sie genau, was sie wollte. Auch sie hatte einen adligen Namen, ihr Vater war ein gefürchteter General gewesen. Feo und Britta zeigten kein besonderes Verhältnis zueinander. Die eine war die Gedichtleserin, und die andere war die Schweigsame, die manchmal etwas Freches sagte.
Ganz das Gegenteil waren ihre beiden Klassenkameraden. Sie fielen durch die Art ihrer Rede sofort auf. Er sah sie bei den Mahlzeiten, in der großen Pause und während der musikalischen Wochenendveranstaltungen. Ihr Äußeres war sehr unterschiedlich. Der eine, Konrad, war mittelgroß, fast zart, hatte dunkles Haar und eine südländisch wirkende Hautfarbe. Die scharfe Nase und die feingeschnittenen Lippen fielen auf. Jedes Wort, das aus seinem Munde kam, war gestochen und wurde oft von einem Lachen begleitet. Dieses Lachen schüchterte einen ein. Und zwar deshalb, weil man das, was er sagte, oft nicht sofort verstand. Er war der Mittelpunkt aller, die ihm zuhörten. Dass er Primus seiner Klasse war, war ohnehin allen bekannt. Aber kein gewöhnlicher Primus. Er war so begabt in allen Fächern, nicht nur in Griechisch und Latein, sondern auch in Mathematik, dass er nebenbei noch Arabisch lernte. Sein Vater war der bekannteste Juraprofessor seiner Zeit gewesen, musste aber wegen seiner Verwicklung in die Rechtspolitik des Regimes die Universitätslaufbahn aufgeben. Das erfuhren die Schüler erst allmählich, als nämlich in der nahen Universitätsstadt Studenten mit Fackeln in der Hand gegen die Anwesenheit von Konrads Vater an der Universität protestierten. Konrad hatte von seinem Vater die Scharfzüngigkeit geerbt. Aber darüber wurde nicht gesprochen. Die Eltern waren kein Gegenstand der Unterhaltungen untereinander. Als er Konrad besser kennenlernte, nicht als Freund, aber als den tonangebenden Jungen in der Klasse über ihm, dachte er, Konrad sähe wie Mephisto aus. Aber ein schöner Mephisto.
Der andere Schüler, der schon wegen seiner Größe und seiner blonden Haarmähne nicht zu übersehen war, hieß Rüdiger. Er war äußerlich das Gegenteil von Konrad, seinem besten Freund. Zwei Köpfe größer, ein Hüne, ein fast weißes Marmorgesicht mit ausgeprägter Stirn, tiefliegenden Augen mit Schatten darunter und einer ständigen Lippenbewegung. Seine Art zu reden war viel ausladender, prunkvoller, manchmal auch aggressiv. War Konrad der Wissenschaftler, so war Rüdiger der Künstler. Er hatte viel mehr gelesen als alle anderen zusammen. Besonders zwei Dichter verehrte er: Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. Rüdiger hatte manchmal eine große silberne Kette um den Hals, die bis auf die Brust herunterhing. Es war dieselbe Kette, die auch die Französischlehrerin und ihr Mann, ein Silberschmiedkünstler, trugen. Er fand das so auffällig, dass er eines Tages die Französischlehrerin, die ihm wegen seiner in Westfalen verpassten Französischjahre Privatunterricht gab, fragte, was es mit der Kette auf sich habe, wieso Rüdiger die gleiche Kette trüge. Sie antwortete ihm, dass sei die Kette, die alle Mitglieder des Kreises um den Dichter George trügen. George und die älteren seiner Schüler seien schon tot, aber es gebe eben noch immer jüngere Anhänger. Rüdigers Vater sei ein begabter Archäologe gewesen und nicht aus Russland zurückgekommen. Von ihm, einem jungen Mitglied des Georgekreises, habe Rüdiger diese Kette erhalten.
Das klang wieder nach etwas Hohem. Das Wort »Kreis« erinnerte ihn irgendwie an das Wort »Ring«. Fortan betrachtete er Rüdiger als ein vom Schicksal ausgezeichnetes Wesen. So stellte er sich den Achilles aus Homers Ilias vor. Oder Apollon? Eines von Rüdigers auffälligen Talenten, die nichts mit Achilles zu tun hatten, war, dass er hervorragend Klavier spielte. Im Sommer 49 spielte er in der großen Pause auf dem Klavier, das im Esssaal auf der Empore stand. Es war vor allem das gerade in Mode stehende französische Chanson La Mer . Er spielte diese schmelzende Melodie nicht nur mit großem Einsatz, er sang auch dazu.
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