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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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Außerordentliche, das er nach und nach entdeckte, sondern auch das Neue. Kein Schüler sprach mehr in einem Dialekt, wie er es aus Köln, jedenfalls in der Volksschule und bei den irischen Großeltern gewohnt war. Die Schüler sprachen fast alle, so wie die Lehrer auch, ein reines Hochdeutsch. Es kam ihm in dieser Reinheit kalt vor. Natürlich merkte man bei diesem oder jenem Schüler, ob er aus Süddeutschland oder Norddeutschland kam. Die wenigen Rheinländer hörte man sowieso heraus. Aber es blieb eine hochdeutsche Sprache. Dann gab es in seiner Klasse fast nur Protestanten. Die einzige katholische Klassenkameradin, Michele, die Nichte eines berühmten Schriftstellers, die in der Türkei großgeworden war, ging immer mit ihm zusammen zum katholischen Dorfpfarrer, der mit ihnen beiden Kirchengeschichte las. Nichts Dogmatisches, weil sie ihm ganz offen mitgeteilt hatten, dass sie nicht mehr an Gott glauben würden. Er war ein einfacher Dorfpfarrer. Ganz im Gegensatz zu dem protestantischen Pfarrer, der wie Luther aussah und dessen Predigten berühmt waren, sodass sie auch der Schuldirektor fast jeden Sonntag besuchte. Diesen Pfarrer hatte er eines Tages gefragt, ob er gelegentlich am evangelischen Religionsunterricht teilnehmen könne. Noch immer musste er darüber nachdenken, ob es Gott gebe oder nicht. Der evangelische Pfarrer hatte es ihm freundlich erlaubt, als er von seinem Glaubensunglück erfuhr. Aber er fühlte sich nicht wohl. »Was ist es?«, fragte der Pfarrer ihn. Er antwortete, in der evangelischen Kirche werde zuviel geredet, aber zuwenig gezeigt. Er sagte das, obwohl ihm die Predigten des evangelischen Pfarrers großartig vorkamen, ganz großartig. Die Wörter türmten sich, aber das war es eben – es waren zu viele Wörter, und es gab zu wenig zu sehen. Da lachte der evangelische Pfarrer und sagte: »Du bist noch immer ein richtiger Katholik!« So ging er wieder mit Michele zum einfachen katholischen Pastor, ohne dass ihm Gott wieder näher kam.
    Noch etwas war ihm bei seinen Mitschülern aufgefallen. Eine ganze Reihe trug Ringe mit einem kleinen Wappen darauf. Das waren die Ringe von Adelsfamilien. In jeder der relativ kleinen Klassen gab es einen oder zwei Schüler aus solchen Familien. Da er für alles, was zu sehen war, ein besonderes Interesse entwickelte, geriet er über diese Ringe ins Grübeln. Die meisten Schüler hatten sie ja nicht. Was dachten diejenigen sich, die einen solchen Ring trugen? War es nur eine Art Familienzugehörigkeit, oder war es derselbe Stolz wie der, den einige Schüler im Schulanzug offenbar noch immer zur Schau trugen? Wenn es einen Grund gab, wegen einer Auszeichnung oder einer Leistung stolz zu sein, dann gab es sicher auch einen Grund, einen solchen Ring mit Stolz zu tragen. Und war einer, der keinen Ring trug, von geringerem Wert? Das war ja immerhin möglich.
    Nachdem ihm diese Frage einige Zeit durch den Kopf gegangen war und er unentschieden bei der Antwort blieb, fiel ihm eines Tages auf, wie der neue erste Helfer, ein Sohn aus einer bekannten Adelsfamilie, die einst den Chef des preußischen Generalstabs gestellt hatte, während des Redens an seinem Ring herumspielte. Er befingerte mit der linken Hand den rechten Ringfinger. Auch einige jüngere Schüler aus Familien mit bekannten Namen hatten diese eigentümliche Angewohnheit. Er fand diese Bewegung der Hand am Ring äußerst gesucht. Es wirkte unjugendlich und vor allem eitel. Und Eitelkeit war ihm, jedenfalls in einer solchen Form, fremd und unangenehm. Sie stieß ihn ab. Dasselbe galt für eine gewisse Redeweise der Ringtragenden, die manchmal großtuerisch wirkte, ohne dass es immer beabsichtigt war.
    Er war enttäuscht. Er wollte ja das Großartige, das ganz Besondere, sozusagen das Griechische in allem in der Schule sehen. Andererseits hatte er gehört, dass eine Reihe von Angehörigen dieser Familien während des Regimes hingerichtet worden waren. Es stellte sich ihm nicht die Frage, ob und wieso der erste Helfer stets aus einer adligen Familie kam. Denn der beliebteste erste Helfer war kein guter Schüler und der Sohn eines Kaufmanns, der lange in China gelebt hatte. Er hieß mit Spitznamen Papschi, weil er angeblich einen chinesischen Gesichtsausdruck hatte, der davon kam, dass er als Kind nur Chinesen erblickt hätte. Aber auch der besaß einen Ring, an dem er drehte. Es galt, diese Eindrücke im alltäglichem Denken unterzubringen und sich nicht abbringen zu lassen von dem schönen Gefühl,

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