Granatsplitter
Auf Französisch? Ja, das las er, obwohl er erst dreizehn Jahre alt war, anderthalb Jahre jünger als der Junge selbst. Schon in den nächsten Tagen kam heraus, dass Adrian älteren Schülern auch Nachhilfeunterricht in Chemie erteilte. Der Junge hatte weder Ahnung von Balzac noch gar von Chemie, ganz zu schweigen von der französischen Sprache.
Im Zimmer wohnte noch ein dritter Junge, Alex, nicht zu verwechseln mit Alexander. Alex war der Neffe einer hochangesehenen politischen Publizistin, die mit einem Buch über den Verrat im 20. Jahrhundert große Bekanntheit und Anerkennung gefunden hatte. Alex hatte eine schüchtern-kühle, sehr höfliche Art. Er schien immer Bescheid zu wissen, war aber zuvorkommend und freundlich. Manchmal auch abwesend, als ob er in irgendeine Geheimwissenschaft verwickelt wäre, aus der er seine Kenntnisse holte. Mit ihm freundete er sich auch an, wie es selbstverständlich war, wenn man so nahe beieinander lebte.
Adrian war anders. Aus welchen Verhältnissen kam er? Adrian hatte auch einen adligen Namen, aber nicht preußisch, sondern süddeutsch. Er trug weder einen Ring noch hatte das überhaupt irgendeine Bedeutung für ihn. Der Vater war, so erfuhr er später, Professor für Röntgenologie an der Münchner Universität, die Mutter war praktische Ärztin. Er hatte eine ältere Schwester, die auch auf der Schule war, und zwei jüngere Brüder, die viel später ebenfalls auf das Internat kamen. Adrian sprach kaum über seine Eltern oder seine Familie. Seine Andeutungen blieben sehr kühl, ja kalt. War das ein Grund für den irgendwie spöttisch klingenden Ton? Wieso wurden sie Freunde, wenn sie so verschieden waren?
Adrian wurde sein einziger wirklicher Freund auf der Schule. Zwischen ihnen entstand eine geistige Neugier, die sie unter einer Art permanenten Spannung hielt. Das Merkwürdige dabei war, dass sie so verschiedene Interessen hatten und so verschiedene Begabungen. Adrian, der Balzac auf Französisch las, zeigte kein großes Interesse im Deutschunterricht und auch nicht beim Schreiben deutscher Aufsätze. Er selbst, der viel weniger von Literatur wusste, schrieb immer die besten Aufsätze. Auch die Gliederungen hatten es ihm angetan. Adrian dagegen nicht. Das Zeug zum guten deutschen Aufsatz, schien er zu denken, hat etwas Konventionelles, eine gewisse Naivität an sich. Man gibt sich keine Mühe bei den von der Schule oder vom Lehrer ausgedachten Themen. Das sollte heißen: Man hat seine eigenen Themen.
Was Adrian für ihn bedeutete, war gar nicht so sehr, was er sagte, sondern wie er es sagte. Es hatte einen seltsam abgehobenen Ton. Schon am Morgen des ersten Zusammentreffens, als Adrian ihn fragte, woher er denn käme, hatte er den Eindruck, dass er eigentlich auf etwas anderes hinauswollte, das gar nichts zu tun hatte mit der Frage. Wollte er ihn testen? Wollte er mit ihm in einen Redewettbewerb treten? Immerhin waren sie keine Sextaner oder Quintaner mehr, sondern Tertianer, zwei Jahre vor dem Einjährigen. Er selbst hatte auf der Staatsschule ja gerade aufgehört, Ganghofer und Karl May zu lesen, und begonnen, die Dramen Schillers zu verschlingen, die Braut von Messina , Wallenstein , Don Carlos . Je dramatischer, desto besser. Er liebte die Melodie mancher von Schillers Dramensätzen: »Die schönen Tage von Aranjuez sind nun zu Ende.« Das war ja nichts anderes als eine zeitliche Mitteilung, aber wie es klang! Vor allem, als er auf das Gedicht Nänie stieß, war er fast benommen von dem wunderbaren Satz: »Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich.« Was für ein Ausdruck! Was für ein Gefühl! Adrian dagegen war angezogen von psychologisch erklärbaren, aber komplizierten Situationen, die ein Schriftsteller wie Balzac darstellte. Balzac war außerdem dramatisch genug. Ihm selbst ging es auch nicht um das Edle der Person, um ihre idealistische Gesinnung, sondern um die plötzlichen Überraschungen, das Unvorhergesehene. Besonders die Liebesgefühle der Frauen hatten es ihm angetan. Aber über solche Leseerlebnisse sprachen sie vorerst nicht. Eher über Menschen in der Schule. Dabei bemerkte er, dass Adrian die Schule keineswegs als ein neues Griechenland empfand. Ganz im Gegenteil. Adrians trockene Bemerkungen zu diesem und jenem waren ohne die Spur einer solchen Vorstellung. Er selbst vermied es, Adrian mit seinen Höhenflügen zu behelligen. Andererseits gehörte Adrian ja mit dazu. Sein Ton war zwar trocken, sein Gesichtsausdruck dagegen sehr
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