Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
Vom Netzwerk:
Die Schüler und Schülerinnen, manchmal auch die Lehrer, umlagerten das Klavier, um ihm zuzuhören. Rüdiger war eine der auffälligsten Figuren im Internat. Es gefiel ihm, im Mittelpunkt zu stehen.
    Es gab noch eine Person, die ihm eigentlich am meisten von allen auffiel. Sein Name war Jürg. Er gehörte zu den Schulanzugträgern, die schon Abitur gemacht hatten, aber noch manchmal in der Schule zu sehen waren. Ein großer, fast dürrer Junge mit einem schmalen, entschlossen blickenden Gesicht, nun schon Student, aber immer in den sehr kurzen grauen Hosen des Schulanzugs. Ähnlich wie im Falle Konrads sprach man immer davon, wie glänzend er das Abitur gemacht hatte. Er war für ihn so etwas wie das Zentrum der alten Schülerschaft geworden, selbstbewusst, nicht eitel, verantwortungsbewusst. Jürg studierte Jura. Auch ohne eine nach außen zur Schau getragene Schuletikette umgab Jürg eine Autorität, die etwas vom Geist der Schule, wie er sie empfand, verkörperte, ohne dass Jürg irgendetwas in dieser Richtung von sich gab.
    Außer Jürg gab es noch zwei andere Ehemalige, die ihn enorm beeindruckten, als sie beim Sommerfest auf ihre alte Schule kamen. Die eine, Erika, war die Tochter eines berühmten Göttinger Professors für Geschichte und sah aus, als sei sie eine Schönheit aus dem Mittelalter. Feiner war keine. Die andere, Monika, hatte einen alten preußischen Namen, wohnte aber mit ihrem englischen Mann, einem ehemaligen Oberst der britischen Italienarmee, irgendwo in Norditalien in einem alten Haus, wo ihre großen Hunde die Teppiche und Möbel zerbissen. Sie verdiente mit Müh und Not etwas Geld, indem sie für deutsche Zeitungen schrieb, denn der Oberst tat nichts, außer dass er die Hunde versorgte. Diese beiden ehemaligen Schülerinnen, die eine von madonnenhafter Anmut, die andere von exotischem Temperament, waren genau das Richtige, seine größeren Ideen über das Internat noch weiter anzustacheln.
    Es gab natürlich auch Schüler, die seinen großen Ideen nicht entsprachen. Als er eines Tages beim Nachmittagstee in der Schlange anstand, um seine wässrige Portion und das dazugehörige zu süße Marmeladenbrot zu bekommen, erkannte er vor sich ein Gesicht wieder: Das Gesicht des Anführers der die kleinen Schüler damals terrorisierenden Clique, Sohn des berühmten Schriftstellers, dessen historische Romane alle im Bücherschrank der Mutter standen. Sie hatte ja damals dafür gesorgt, dass dieser ganz besonders brutale Junge aus allen seinen Schulämtern flog und andere sogar von der Schule. Ja, es war Alexander! Er war perplex und musste sich von diesem Anblick erholen. Als er ihn ansprach, tat der so, als ob er ihn nicht wiedererkenne. Das war natürlich möglich, immerhin war er ja fast vier Jahre älter. Aber er war damals als Untertertianer sein Zimmerführer gewesen. Erkannte Alexander ihn wirklich nicht? Deshalb wurde er deutlicher und fragte ihn, ob er die Quälereien vergessen habe. Er zitterte dabei innerlich vor Wut und Hass. Es war ihm unerträglich, diesen Charakter abermals das große Wort führen zu hören, ein herablassender Tonfall, der ihm gewaltig auf die Nerven ging. Der arrogante Tonfall von Alexander war auch bei einigen anderen zu hören. Sprach man so, wenn man entsprechend erzogen worden war? Sprachen deren Eltern auch so? Sein eigener Vater jedenfalls sprach nicht so. Während der Großvater einen etwas altmodisch zeremoniellen Redestil pflegte, gab sich der Vater direkt, ohne jedes Drum und Dran. Er war in keiner der Verbindungen gewesen, denen man damals eigentlich angehörte. Alles Hochnäsige war ihm fremd.
    Aber noch unvorbereiteter war die Bekanntschaft mit dem Schüler, der sein Nachbar im Internatszimmer wurde: Adrian. Adrian, dachte er, war für ihn der erstaunlichste Klassenkamerad, den er jemals kennengelernt hatte. Schon am ersten Morgen, als sie in ihren Betten nebeneinander wach wurden und zum Duschen gingen, fand er, dass er jemanden vor sich hatte wie niemals zuvor. Es fing damit an, dass Adrian ebenfalls eine leicht spöttische Art zu reden hatte. Aber dahinter steckte keine Eitelkeit, eher Schüchternheit oder der Wille, dem, was er sagte, eine Portion Zweifel beizumischen. Adrian war nicht zu begeistern, aber zu interessieren. Es musste nur wirklich interessant sein. Was er sofort für dessen Ungewöhnlichkeit nahm, war die Tatsache, dass auf dem Stuhl neben seinem Bett ein kleines Buch in französischer Sprache lag. Der Verfasser war Balzac. Las er das?

Weitere Kostenlose Bücher