Granatsplitter
nichts zu tun mit den lieblichen Mädchen und Frauen in seiner Vorstellung, die er aus Büchern hatte. Und dieses Gefühl überkam ihn auch, wenn er auf die Klassenkameradin in der Bank direkt vor ihm sah.
Er spürte, dass keineswegs alle Schüler um ihn herum diese tiefernsten Sätze des Direktors so wichtig nahmen wie er. Dieser machte ein Gesicht, als ob er in diesem Augenblick das Furchtbare, das geschehen war, wirklich erblickte. Kein Zweifel, der Direktor war im Bunde mit höheren Einsichten, die ihm aus der grünen Bibliothek kamen. Und sein Urteil war furchtgebietend gerecht. Jedenfalls sollte es nach seinem eigenen Empfinden so sein. Dieses Empfinden, in dem er sich wohlfühlte, blieb ihm erhalten, bis die Rede zu Ende war. Danach, wenn alle von den Stühlen aufstanden und zunächst sprachlos dem Ausgang des Saales zustrebten, dann aber in ein allgemeines Gerede verfielen, blieb er mit seiner Stimmung am liebsten noch etwas allein. Es gab also sehr ernste, sehr wichtige Dinge, die er bedenken wollte. Dass sich Schüler und Schülerinnen heimlich trafen und etwas miteinander machten, war nicht das Entscheidende. Entscheidend war der heilige Zorn des Direktors. Er hatte einen solchen Mann wie den Direktor noch nie erlebt und noch nie jemanden so sprechen hören. Der Vater, der ihm im letzten Kriegsjahr eine Sammlung von lateinischen Sätzen und ihre deutsche Übersetzung in ein kleines Heft geschrieben hatte, hatte zwar auch die Neigung, etwas Wichtiges mit großem Ernst auszusprechen. Aber mit dem Ernst des Schuldirektors, mit der Wucht seiner Ansprache, ließen sich die Sätze des Vaters nicht vergleichen.
Hierfür gab es noch einen anderen Grund. In der Schule wurde eine Art Ethik befolgt. Zum Ehrenkodex gehörte, nicht abzuschreiben und nicht zu lügen. Wer das tat, war eigentlich nicht wert, zu dieser Schule zu gehören. Das Internat war eben ganz anders als alle anderen Schulen, die Staatsschulen vor allem. Wie genau dieser Ehrenkodex funktionierte, wurde ihm erst allmählich deutlich. Zunächst dadurch, dass ihm schon bald einige der größeren Schüler und Schülerinnen auffielen, die einen sogenannten Schulanzug trugen: ein graues Flanellhemd und eine graue kurze Flanellhose oder ein graues Flanellkleid. Sie sahen besonders darin aus. Das lag nicht allein an der eleganten, gleichzeitig aber auch puritanisch einfach wirkenden Kleidung, es lag an der Miene, mit der sie ihre Kleidung trugen. Es waren durchweg ziemlich hochaufgeschossene Schüler, die sehr viel Selbstgewissheit ausstrahlten. Sie wirkten nicht hochmütig, aber schienen von einem bestimmten Bewusstsein erfüllt zu sein. Ihre Kleidung war als offizielle Schulkleidung seit einiger Zeit abgeschafft. Sie schien dem philosophischen Direktor nicht mehr recht zu passen in die Nachkriegszeit. In der Zeit davor, seit Beginn der dreißiger Jahre, waren Schüler und Schülerinnen durch die Verleihung des Schulanzugs ausgezeichnet worden, wie es noch immer die Praxis in dem benachbarten Internat am Bodensee war, ursprünglich die Mutterschule beider Internate.
Wem damals als Oberprimaner die Ehre des Schulanzugs noch nicht verliehen war, der musste die Schule verlassen. Die Ober- und Unterprima bestand 1947 aus nur wenigen Schülern. Nicht mehr als fünf oder sechs Jungen, ein oder zwei Mädchen. Zum Teil waren das besonders Begabte. Wer also jetzt noch im Schulanzug herumlief, wollte zur alten Garde gehören, dachte er. Man wollte etwas Bestimmtes ausdrücken – aber was? War es ein Protest dagegen, dass der Schulanzug nicht mehr das Zeichen der Schule war? Wollten sie ihre eigene Auserlesenheit demonstrieren? Vor allem ein achtzehnjähriger Oberprimaner und eine fünfzehnjährige Obertertianerin sahen so aus, als hätten sie eine Botschaft. Er fand das nicht lächerlich. Aber wie lautete diese Botschaft? Er war sich jedenfalls sicher: Sie hatten allen Grund, so auszusehen. Über den jungen Mann, der noch vor dem Abitur plötzlich aus der Schule verschwand, wurde bald viel geredet. Es hieß, dass er mit der schönen Musiklehrerin, der jungen Ehefrau des Griechischlehrers, durchgebrannt war. Nach Griechenland, wo er angeblich Archäologie studieren wollte. Für den Jungen war das ein untrügliches Zeichen von Auserwähltheit. Die aus einer hochadligen Familie stammende Obertertianerin, deren abweisende Grazie ihn sofort angezogen hatte, lebte offenbar in literarischen Büchern. Immer trug sie einen Gedichtband bei sich. Er hatte nie Gelegenheit,
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