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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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lebhaft. Überhaupt sein Gesicht. Vielleicht war Adrians Gesicht der Grund, dass er alles, was dieser sagte, so wichtig nahm, ganz im Unterschied zu den Reden der anderen Klassenkameraden, mit denen er über das sprach, was der Unterricht und der Tag brachten. Adrian hatte ein schmales, längliches Gesicht, eine ausgeprägte Nase, intensive dunkle Augen, schwarze Haare. Adrian war groß, ungefähr so groß wie er selbst, er war kräftig und praktisch veranlagt. Aber etwas Trauriges lag dahinter. Und das zog ihn an.
    Insofern wurde Adrian ein weiterer Grund für ihn, die Schule nicht einfach als das Gebäude zu nehmen, in dem sie in der Nacht schliefen und am Tag unterrichtet wurden, sondern als einen geheimnisvollen Ort. Agamemnon und Klytämnestra, die grüne Bibliothek, das altgriechische Alphabet bildeten die inneren Kammern dieses Geheimnisses. Aber es blieb nicht nur eine räumliche Vorstellung. Der Raum erweiterte sich zu einem Zeitraum. Er machte manchmal mit Adrian Spaziergänge auf die nächste Höhe in Richtung eines Dorfes namens Breitnau. Adrians Familie hatte dort ein kleines Ferienholzhaus, und so kannte er die Gegend ziemlich gut. Es war eine wilde Gegend. Dem Jungen war es peinlich auszusprechen, dass er wiederum dachte, in Griechenland zu sein. Nicht in der Landschaft Athens, aber auf dem Peloponnes. Er war dort noch nie gewesen, er hatte überhaupt keine realen Kenntnisse von Griechenlands Landschaften. Er stellte sie sich aber genau so vor wie die Landschaft im Hochschwarzwald. So tief hatte sich das Aischylosdrama in seine Vorstellungen vom Leben und der Welt eingenistet, dass auch die ihn umgebende Natur davon mitbetroffen war. Wo er war, war Griechenland.
    Aus dem Schulgebäude zu treten und sofort in der Einsamkeit von Wiesen, Berghalden, Hochflächen aufzugehen, war ein sehr ähnliches Empfinden, wie auf die Bücherrücken in der grünen Bibliothek zu sehen. Es war eine andere Welt. Das Dorf war auch etwas jenseits der normalen Welt, denn die Sprache der Bewohner konnte er oft nicht verstehen. Adrian konnte dagegen den Dialekt nachahmen, jedenfalls sprach er in diesem Tonfall mit vorbeikommenden Leuten. Der Wechsel von der akzentfreien Hochsprache zum südalemannischen Dialekt wirkte etwas herablassend, etwas jovial, für einen von nur dreizehn Jahren zu altklug. Den rheinischen Singsang, den der Junge immer noch hatte, fand Adrian komisch, irgendwie ordinär. Überhaupt tat Adrian so, als ob das Süddeutsche das eigentlich Zivilisierte sei. Alles jenseits der weichen schwäbisch-badischen oder bayrischen Färbung der Hochsprache wurde von ihm karikiert. Die rheinische Hauptstadt war für Adrian eigentlich der Höhepunkt des Gewöhnlichen. Damit traf Adrian vor allem deshalb einen wunden Punkt, weil eine solche Charakteristik natürlich nicht zu der Vorstellung passen wollte, auf den elysischen Feldern zu leben. Adrian hatte keine Ahnung, was er mit solchen gelegentlichen Blödeleien anrichtete.
    Die Wirkung der Landschaft war am stärksten, wenn alles für lange Zeit im Schnee versank. Der Schnee wurde zu einer mächtigen Gewalt, die unmittelbar am Haupthaus und seinen Nebengebäuden begann. Dann lag der arkadische Garten eingefroren, die Ausgänge zur Landstraße und zum Sportplatz, von wo aus schon der Aufstieg zur Breitnauer Höhe begann, waren vollkommen schneeverweht. Aber die Schüler gingen mit ihren Skiern weiter hinauf in diese fremdgewordene weiße Welt. Alle fuhren Ski. Das Skifahren war für ihn aber etwas anderes als eine sportliche Leistung. Gegenüber der Breitnauer Höhe lag, unterbrochen vom Höllental, die Windeckhöhe, wo die Wege zum Feldberg und das Skigebiet der Schule begannen. Die Namen dieser Gegend lösten in ihm die Stimmung einer wunderbaren Einsamkeit aus. Am intensivsten aber wirkte der tiefe Schnee, die Kälte. Wenn man länger mit der Rückkehr in die Schule wartete, wenn um vier Uhr nachmittags die Dämmerung begann und nur noch wenige Schüler unterwegs waren, dann verstärkte sich das Gefühl, etwas ganz Unbekanntem ausgesetzt zu sein.
    Dieses Unbekannte war nicht abschreckend. Es war wunderbar, geheimnisvoll. Man konnte ziemlich steile Wege mitten durch den Hochwald hinabfahren. Das war, wenn man aufpasste, nicht wirklich gefährlich. Doch ein Jahr zuvor war ein Schüler hier tödlich verunglückt, als er die Kontrolle über seine Skier verlor und in hoher Geschwindigkeit gegen den Stamm eines Baumes knallte. Er selbst war kein guter Skifahrer. Er hatte

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