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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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mit ihr zu sprechen, weil sie ihn und seine Klassenkameraden einfach übersah. Sie hieß Feo, eigentlich Feodora.
    Neben dem stillschweigend ausgeübten Ehrenkodex gab es eine weitere Eigentümlichkeit, die ihn interessierte, nämlich den »Ring«. Er bestand aus einer Reihe von auserwählten Schülern unter dem Vorsitz des Direktors. »Der Ring« war ein Teil der besonderen Schulordnung, die nach dem Vorbild des großen griechischen Philosophen ausgedacht worden war: Die Schulordnung wurde nämlich in Form einer Schülerselbstverwaltung gewahrt, für die einige sogenannte Helfer verantwortlich waren. Unter ihnen ragte der »erste Helfer« heraus. Das Wort »Helfer« war eine Abänderung des Wortes »Wächter«, wie es in der Staatsschrift des Philosophen Platon hieß. Das berühmte Nachbarinternat, wurde ihm erzählt, hatte nach wie vor den Ausdruck »Wächter« beibehalten. Der erste Helfer und die anderen Helfer wurden von der älteren Schülerschaft ab Obertertia für ein Jahr oder ein Trimester gewählt. Es gab einen Helfer für die verschiedenen Gebäude sowie einen Helfer des Schülergerichts, einen Sporthelfer und einen Kulturhelfer. Von diesen der wichtigste war der Helfer für das Schülergericht. Streitigkeiten zwischen Schülern, die einen regelrechten Fall zur Folge hatten, wurden hier entschieden. Aber auch bestimmte Verletzungen der Schuldisziplin. Er selbst hatte von Anfang an keine große Sympathie für das Schülergericht, weder für die Institution noch für den jeweiligen Helfer. Der Grund hierfür war ihm nicht ganz klar. Es gefiel ihm einfach nicht, dass ein Einzelner von seinen Mitschülern beurteilt und dann eventuell zu einer Strafe verurteilt wurde, zum Beispiel am Sonntag mit einem anderen Verurteilten auf einem großen hölzernen Leiterwagen mit Deichsel die Milchkannen aus dem Dorf zu holen. Nicht wegen der Strafe war es ihm zuwider, sondern weil er nicht mochte, dass das Gericht gegen einen Einzelnen eine Regel durchsetzen durfte. Das wirkte auch lächerlich, weil es so schrecklich gehorsam, so brav wirkte. Er mochte nicht, wenn sich jemand an eine Vorschrift hielt und sich dabei auch noch gut vorkam. Am Ende des Trimesters sagte ihm ein älterer Schüler, dem er seinen Widerwillen zu erklären versuchte, auf solche Empfindungen käme es gar nicht an. Gesetz sei Gesetz. Man habe sich so zu verhalten, dass das eigene Verhalten sogar Gesetz werden könnte. Das habe der berühmteste Philosoph überhaupt erklärt. Das sei ja noch schlimmer, antwortete er, wütend geworden. Er war fest entschlossen, genauer herauszufinden, was man gegen solche unmenschlichen Auffassungen tun könne. Auf jeden Fall war er dagegen. Er stellte sich vor, dass er selbst mit dem Schülergericht zu tun haben könnte.
    Der Kulturhelfer war zuständig für abendliche Literaturlesungen, aber er half auch bei der Organisation der Wochenendkonzerte oder hatte mit besonderen Arbeitsgemeinschaften zu tun, deren Themen sich einige Schüler selbst setzten. Die Wahl des Sporthelfers war am einfachsten. Immer wurde es ein älterer Schüler, der sich im Sport hervorgetan hatte, und meistens war es der Chef der Hockeymannschaft, dem Schulsport. Fußball, den er in der westfälischen Schülermannschaft gespielt hatte, gab es nicht. Das war nicht fein genug. Das wurde nicht laut gesagt, war aber ganz klar. Die berühmte ehemalige Schwesterschule am Bodensee spielte auch nur Hockey, und zwar, wie er bald bei einem ihrer Besuche sah, im grauen Schulanzug und manchmal sogar barfuß, um ihre Überlegenheit zu zeigen. Es gab einen Hockeyspieler, der besonders freundlich war, nicht nur zu ihm, sondern zu allen. Es war eine stolze Freundlichkeit, eine, die immer wusste, was richtig und was nicht richtig war. Gerade das blieb ihm ganz unklar. Aber er konnte nicht verhindern, dass Bewunderung in ihm aufstieg. Gemischt mit einer Art Abwehr. Dieser Junge war für ihn auch ein Symbol der Schule.
    Erster Helfer zu sein erschien ihm etwas so Besonderes wie der Schuldirektor selbst. Rektorrede, Schulanzug, erster Helfer und das Mienenspiel einiger Schüler verschmolzen zu der altgriechischen Vorstellung, aus der er allmählich einen inneren Kult machte. Wenn er in das nahe Schwarzwalddorf ging, hörte er manchmal die Bewohner in ihrem Dialekt über die Schüler des Internats reden, so als ob es Menschen aus einer ganz anderen Welt wären. Und er selbst hielt es ja nicht anders, obwohl er längst dazugehörte. Es war nicht nur das

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