Granatsplitter
Operettensängerin, sagte ihm die Mutter, habe ihr Mann ein Verhältnis angefangen. Die Mutter hatte sich schon seit einiger Zeit verändert. Ihre Lustigkeit und ihr Temperament waren einer merkwürdigen Stille gewichen. Jetzt wusste er warum. Auch ihm setzte das zu. Dass dies gerade in der Zeit passierte, als er die Enttäuschung über den Oberst innerlich verarbeitete, nämlich den Verdacht, Theaterleute oder solche, die das Theater liebten, seien eben so, machte die Neuigkeit seiner Mutter besonders unangenehm für ihn. Sie unterhielten sich bald auch über den Mann der Sängerin. Er sei kein großer Regisseur, sagte die Mutter. Deshalb habe er auch diese Schlampe geheiratet. Er sei außerdem ein Nazi gewesen. Er habe nämlich einen Schillerfilm gedreht, den sie vor zehn Jahren noch gesehen habe. Der Schiller darin habe geredet wie einer dieser Edelnazis. Ein Fanatiker in seinen Überzeugungen. Daran habe auch nichts geändert, dass Horst Caspar die Rolle gespielt habe. Der war, sagte sie, fast genauso berühmt wie Josef Kainz, nur sehr viel jünger, und habe, an Schwindsucht leidend, wohl keine lange Zeit zu leben mehr.
Diese Erlebnisse während der Sommerferien 1950 bewirkten, dass er sich noch mehr auf sich selbst und seine eigene Idee vom Theater konzentrierte. Dabei spielte das Lesen von Grillparzers Der Traum ein Leben eine große Rolle, weil er hoffte, bei der Rückkehr in die Schule würden die Vorbereitungen zu einer Aufführung beginnen. Das lag nicht allein an der Vorfreude, wieder Theater spielen zu dürfen, es lag auch an Grillparzers Stück, das seiner inneren Verfassung besonders entsprach. Bisher waren die Rollen, die er gespielt hatte – Orlando, Tempelherr und Don Manuel –, vor allem Anreize zum Bühnenauftritt gewesen. Es waren den Ehrgeiz anspornende Herausforderungen. Aber so verschieden diese Personen waren, sie hatten doch nicht sein Innerstes berührt, selbst wenn er sie überzeugend dargestellt hatte. Die Verwandlung seiner Alltagsperson in eine ganz andere hatte seinem Sinn für das Nichtalltägliche gefallen. Insofern hatten alle drei Stücke eine ins Phantastische gehende Wirkung auf ihn gehabt. Nun aber, mit dem Rustan, dem persischen Helden in Grillparzers Drama, hatte sich das noch einmal verstärkt. Er identifizierte sich mit ihm. Nein, nicht mit ihm als Charakter, aber mit dessen Vorstellungen. Dabei sprach auch der Rhythmus der Verse Grillparzers sein Gefühl besonders an, was im Falle von Wie es Euch gefällt , Nathan der Weise und Dame Kobold anders war. Was ihn sofort für das Stück einnahm, war, dass es die Darstellung eines Traumes des Helden Rustan zeigte. Und in diesem Traum trafen zwei gegensätzliche Zustände aufeinander, die er selbst für sich wünschte, nämlich die Flucht aus der Wirklichkeit und ein aufregend gefährliches Leben. Was den neuen liebenswürdigen Deutschlehrer, der für den Nathan verantwortlich war, auf den Einfall gebracht hatte, dieses thematisch abgelegene, aber farbige Stück zu wählen, blieb ihm, als er darüber nachdachte, ein Rätsel. Wie wollte dieser die Traumszene mit der Jagd nach einer Schlange, mit der exotischen Felsenlandschaft, mit dem ganzen phantastischen Geschehen in Samarkand auf der Schulbühne aufführen? Hatte er das Stück ausgesucht, weil es um das Glück eines friedvollen Lebens ging angesichts schrecklicher Taten in der Welt? Rustan wurde in seinem eigenen Traum ein blutiger Tyrann. Der Deutschlehrer würde ihnen das schon noch ausführlicher erläutern. Es gab auch wieder eine romantische Attraktion: die Königstochter Gülnare, die sich in Rustans Traum in diesen verliebt, weil er den gleichen Namen hat wie der legendäre Prinz aus der persischen Sage. Wer würde die wohl spielen? Wahrscheinlich Feo. Aber das war nebensächlich. Entscheidend war, als er begann, einige Monologe des Rustan auswendig zu lernen, das Thema der Weltflucht, das Träumerische. Es war seine Rolle.
Der Träumer war allerdings kein Weichling. Rustans Abkehr von der Welt, das war es, was ihn am Stück anzog. Er hatte in den Ferien nach dem gutbestandenen Einjährigen ab und zu Zustände des Traurigseins. Die Stadt, ihre zum Teil neuaufgebauten Straßen, aber auch die Gespräche der Erwachsenen wirkten wie das Gegenteil seiner Phantasien, die ihn in der Schule beschäftigten. Je mehr Neubauten zu sehen waren, umso hässlicher wurde die Stadt. Die Ruinen brachten einen dagegen zum Denken. An einem Nachmittag, als er in der besonders hässlichen
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